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Materialismus bei Marx
Die erste Feuerbachthese
von Stephan Siemens
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1. Einleitung

Muss man sich eigentlich mit Marx beschäftigen? Nein, das muss man nicht. Aber vielleicht darf man es wieder. Denn die Probleme, die mit unserer Art zu leben und zu arbeiten verbunden sind, treten wieder stärker ins Bewusstsein. Eine theoretische Beschäftigung mit diesen Problemen ist nur möglich, verbunden mit einer kritischen Auseinandersetzung und Aneignung der Theorie von Marx und Engels. Mag diese Theorie auch durch den Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" in der Praxis widerlegt sein. Eine theoretische Widerlegung kann dies nicht ersetzen. Eine solche theoretische Widerlegung aber - das ist meine Überzeugung - gibt es bisher nicht. Eine Theorie mit vergleichbarer Bedeutung für die Probleme der Befreiung in der Gegenwart gibt es - nach meiner Meinung - auch nicht. Man muss sich nicht mit Marx und seinem Materialismus beschäftigen. Aber man kann es aus freien Stücken tun, und dazu möchte ich einladen. Denn Marx hatte - wie ich finde mit Recht - das Selbstbewusstsein, einen Einschnitt in der Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Idealismus und Materialismus darzustellen, weil er einen Begriff des Materialismus erarbeitet hat, der die von den Idealisten aufgeworfenen Probleme auf neue Weise beantworten konnte. Diesen Begriff des Materialismus möchte ich begreifen und darstellen.

2. Die beiden idealistischen Argumente gegen den Materialismus

Unter Materialismus versteht man eine bestimmte Vorstellung über das Verhältnis der Dinge selbst zu unseren Vorstellungen von ihnen. Der Materialismus geht davon aus, dass die Dinge selbst wirklich existieren, also außerhalb des Bewusstseins sind. Unsere Vorstellungen von Gegenständen sind bloß Bilder oder Abbilder dieser wirklichen Dinge im menschlichen Bewusstsein. Diese Abbilder sind bestimmt einerseits von den Dingen selbst, andererseits von dem Bewusstsein, das sie vorstellt. Unsere Vorstellungen stehen deswegen in einem bestimmten Verhältnis zu den Dingen selbst, das man als ein Abbildungsverhältnis bezeichnen kann. Die Gegenstände unserer Vorstellungen sind Abbilder der Dinge selbst.[1]

Mir scheint diese Vorstellung vom Materialismus nicht falsch zu sein, im Gegenteil. Aber sie bringt gewisse Probleme mit sich, Probleme, welche die idealistischen Philosophen gerne anführen, um aufzuzeigen, dass mit dieser Vorstellung etwas nicht stimmen kann. Mit zweien dieser Probleme möchte ich mich hier beschäftigen.

2.a. Vorstellungen kann man nicht mit den Dingen selbst vergleichen!

Die Idealisten haben wie folgt argumentiert: Nehmen wir an, es verhielte sich so, wie die Materialisten sagen. Nehmen wir an, die Vorstellungen, die wir uns von den Dingen machen, seien Bilder der Dinge selbst. Dann fragt sich doch: Wodurch unterscheiden sich denn die Dinge selbst von den Vorstellungen, die wir uns von ihnen machen? Denn wenn die materialistischen Philosophen diesen Unterschied nicht angeben können, dann fragen sich die idealistischen Philosophen selbst, worin der Unterschied bestehen soll. Denn die materialistischen Philosophen können ja ihre Vorstellungen von den Dingen nicht mit den Dingen selbst vergleichen. Um sie mit den Dingen selbst vergleichen zu können, müssten sie sich eine Vorstellung von den Dingen machen, die wiederum nicht die Dinge selbst wären. Sie würden also in Wahrheit Vorstellungen mit Vorstellungen vergleichen und wären den Dingen selbst in keiner Weise näher gekommen. Im Gegenteil wären auch die zweiten Vorstellungen der Dinge nicht die Dinge selbst, so dass auch diese zweiten Vorstellungen der Dinge mit den Dingen selbst verglichen werden müssten, wodurch dritte Vorstellungen von den Dingen selbst entstünden, für die dasselbe gilt und so weiter und so fort ins Unendliche. Wie oft auch immer die materialistischen Philosophen solche Vergleiche versuchen, immer wieder häufen sie neue Vorstellungen der Dinge auf die schon vorhandenen bis ins Unendliche. Zu den Dingen selbst aber kommen sie nie.[2]

Auch wenn die materialistischen Philosophen sich das Vorstelungsverhältnis selbst vorstellen wollten, hätten sie die Vorstellung einer Relation zwischen den Dingen selbst und ihren Vorstellungen von diesen Dingen. Diese vorgestellte Relation wäre ebenso wenig die Relation selbst, wie die Dinge in ihren Vorstellungen die Dinge selbst wären. Es ließe sich also das Vorstellungsverhältnis selbst ebenso unterscheiden von der Vorstellung der Materialisten von diesem Vorstellungsverhältnis. Damit aber würde sich dieselbe - ins Unendliche gehende - Vergleichung der Vorstellungen des Vorstellungsverhältnisses untereinander zeigen, wie wir ihn oben bei dem Verhältnis der Vorstellungen zu den Dingen selbst gesehen haben.

Der Unterschied zwischen den Vorstellungen der Dinge und den Dingen selbst wäre also unbestimmt und sogar unbestimmbar, weil alle vorgestellten Unterschiede nur Vorstellungen von diesen Unterschieden wären. Dasselbe würde für das Vorstellungsverhältnis gelten. Aus der Vorstellung kommen die materialistischen Philosophen nicht heraus. Es ergibt sich daher für die idealistischen Philosophen die Frage: Wovon sprechen die materialistischen Philosophen eigentlich, wenn sie einen Unterschied zwischen den Vorstellungen und den Dingen selbst behaupten? Bezeichnen sie damit etwas Wirkliches, oder wiederum bloß eine Vorstellung, wenn auch eine Vorstellung von den Vorstellungen überhaupt? Sollten die materialistischen Philosophen von nichts Bestimmbarem sprechen - und es ist offenbar undenkbar, dass sie von etwas Bestimmbarem sprechen -, dann ist die Frage, ob diese Vorstellung überhaupt der Wirklichkeit entspricht? Zeigt nicht die Tatsache, dass der materialistische Philosoph darüber nicht bestimmt sprechen kann, dass seine Voraussetzung nicht stimmt. Womöglich gibt es diese Differenz zwischen unseren Vorstellungen und den Dingen selbst gar nicht. Oder besser gesagt: Wenn es dabei bleibt, dass man sich so unbestimmt darüber äußern muss, dann ist es wohl sicher, dass diese Differenz nicht denkbar ist, und dass es sie also gar nicht gibt. Denn was sich nicht bestimmt denken lässt, das gibt es entweder gar nicht, oder wir wissen zumindest davon nichts. Die Annahme, dass es jenseits unserer Vorstellungen etwas wie die Dinge selbst gibt, scheint also absurd zu sein, weil man dieses Jenseits weder denken kann, noch darüber sprechen kann.

Unter anderem daraus schließen nun die Idealisten, dass unseren Vorstellungen außer uns keine materiellen Dinge entsprechen oder wenn, dann können wir das nicht wissen. Unsere Vorstellungen sind Erscheinungen ideeller Gehalte. Diese Erscheinungen haben eine subjektive Seite: das sind die Vorstellungen als solche, und eine objektive Seite, das sind die vorgestellten Dinge, die es aber nur als Vorgestellte gibt, also nicht außerhalb der Vorstellung. Der Fehler der Materialisten ist, dass sie dem Vorgestellten, was also nur in der Vorstellung ist, eine Realität unabhängig von der Vorstellung zuschreiben wollen.

2. b. Der Materialist kann Freiheit nicht als möglich denken und ist also unfrei

Idealistische Philosophen haben neben vielen anderen Argumenten auch das folgende vorgebracht: Gesetzt den Fall es wäre so, wie die materialistischen Philosophen sagen. Die Dinge selbst wären außer uns und unsere Vorstellungen wären nur Abbilder dieser Dinge. Dann würde sich die Gesamtheit unserer Vorstellungen danach richten, wie die Dinge sind, mit denen wir in mittelbare oder unmittelbare Berührung kämen. Die Dinge selbst würden unsere Vorstellungen bestimmen. Wenn die Dinge aber unsere Vorstellungen bestimmen würden, dann würden sie auch uns selbst bestimmen. Da aber diese Dinge außer uns sind, sind sie andere als wir selbst. Anderes also als wir selbst würde uns bestimmen. Wir wären nicht bestimmt durch uns selbst, sondern durch Anderes, Fremdes, durch die außer uns seienden Dinge. Wir wären notwendig fremdbestimmt. Denn es wäre gar nicht anders möglich: Wir müssten aus Gründen der Materialität der Dinge selbst fremdbestimmt sein und bleiben. Es ließe sich gar nicht denken, dass wir frei sein könnten, denn alle unsere Vorstellungen wären jedenfalls fremdbestimmt. Wir hätten nur noch die Möglichkeit, die Dinge mehr oder weniger richtig abzubilden, aber eine Selbstbestimmung wäre unmöglich. Selbstbestimmung aber ist die Voraussetzung für Freiheit. Wenn Selbstbestimmung unmöglich wäre, dann wäre auch Freiheit unmöglich. Wer also für die Freiheit eintritt, der muss auch dafür eintreten, dass Selbstbestimmung möglich ist. Dann muss er sich aber dagegen wehren, dass unsere Vorstellungen in ihrer Gesamtheit (hier fügen die idealistischen Philosophen gerne ein "nur" ein) nur Abbilder von Dingen außer uns, von fremden Dingen sind.[3] Um der - uns möglichen - Freiheit willen sind wir also genötigt, dem Materialismus zu widersprechen, könnten die Idealisten sagen. Wenn die materialistischen Philosophen das nicht tun, dann erweisen sie sich nach Ansicht mancher Idealisten als "schlaffe Charaktere"[4], die auf die Möglichkeit ihrer eigenen Freiheit Verzicht tun und sich Dingen außer ihnen einfach anzubequemen wünschen. Sie wählen den Standpunkt der Unfreiheit; aber das tun sie gegen einen inneren Widerstand, eben aus geistiger Schlaffheit.

Neben dieser schroffen Art des idealistischen Arguments gibt es eine mildere Variante: Die Idealisten könnten zugeben, dass unsere Vorstellungen Abbilder von wirklichen Dingen sind, wenn diese wirklichen Dinge wesentlich von uns gemachte Dinge wären, sozusagen Realisierungen unseres Denkens in der Welt. Dann könnte man sich selbst in diesen Dingen begegnen. So könnte man sich also vorstellen, dass unsere Vorstellungen zwar Abbilder wirklicher Dinge außer uns wären, aber diese Dinge selbst wären wiederum Abbilder unseres Denkens und Handelns. So würden wir uns selbst in den Dingen realisieren, und damit die Dinge bestimmen, die dann wiederum unsere Vorstellungen bestimmen. So würden wir uns mittelbar selbst bestimmen, über den Umweg der von uns gemachten Dinge. Wir würden in den Dingen uns selbst begegnen, vielleicht ohne es zu wissen und zu merken. So wäre Freiheit mit der Wirklichkeit der Dinge vereinbar, solange klar ist, dass diese wirklichen Dinge Realisierungen, Objektivationen - wie das gerne genannt wird - unseres Denkens wären. Wesentlich für die Freiheit wäre dann, dies in Gedanken zu erkennen, dass die uns umgebenden Dinge von uns gemachte Dinge sind, in denen sich unsere Fähigkeit zu denken für uns darstellt. Je mehr wir dies erkennen würden, desto freier wären wir. Die natürlichen Dinge wären von einem Denken gedacht, das logisch vor aller Wirklichkeit die Dinge denkt. So etwa stellt sich Hegel vor, dass die Idee allen wirklichen Gegenständen logisch vorausgeht, und sich in der Welt als Subjekt, als Geist verwirklicht. Die bewussten Menschen denken die endlichen Produkte der sich als Geist realisierenden Idee. Das Handeln der Menschen wäre eine Realisierung der Idee in der Welt. Wer das erkennt, ist deswegen - im Denken und nur im Denken - frei.

Die Dinge wären also selbständig nur im eingeschränkten Sinne. Denn sie wären abhängig von unserem Denken, das mit dem Denken überhaupt übereinstimmt. Unsere Vorstellungen wären dann Abbilder von Abbildern unseres Denkens. Denn die Dinge wären nur Resultate unseres Denkens und Handelns. Weil uns dieses Denken aber nicht klar wäre, deswegen würden wir uns die Dinge als außer uns existierend vorstellen. Was uns fremd erschiene, wäre gar nicht fremd, sondern im Gegenteil eigentlich der Ausdruck unseres denkenden, geistigen Wesens. So ließe sich etwa die Entfremdung idealistisch erklären als eine Verstellung der Sicht auf die Dinge, die verdunkelt, dass es sich um bewusste, gedachte und dann auch gemachte Produkte des Menschen handelt, die zu denken sind, so dass sich der denkende Mensch selbst in ihnen (als in einem Spiegel) erkennt.

Freiheit scheint nach diesem idealistischen Argument nur möglich zu sein, entweder wenn wir überhaupt den Unterschied leugnen zwischen den Dingen selbst und den Vorstellungen von ihnen, wofür es gute Argumente gibt, oder wir müssten - wenn wir schon an den Dingen festhalten wollen - wenigstens einräumen, dass diese Dinge Objektivationen oder Realisationen unseres Denkens sind, unsere Produkte, die wir in die Welt setzen, in denen wir unsere Gedanken realisieren, und worin wir also unsere Gedanken wiederfinden. Sonst ist Selbstbestimmung von vorneherein ausgeschlossen, und mit der Selbstbestimmung auch die Freiheit. Denn die Freiheit ist mit durchgehender Fremdbestimmtheit in den Vorstellungen offenbar unvereinbar, es sei denn, diese Fremdbestimmtheit wäre nur das Ergebnis einer mangelnden Erkenntnis, dass man es bei den Dingen eigentlich mit unserem realisierten Denken zu tun hat. Denn dann wäre man im Denken frei, weil man in den Dingen bei sich selbst wäre, eben beim Denken in äußerlich realisierter Gestalt.[5]

Es gibt noch viele andere Probleme, welche die Idealisten aufwerfen können und in der Geschichte der Philosophie aufgeworfen haben. Ich möchte mich aber hier auf die beiden genannten beschränken. Das erste Argument lässt sich etwa so formulieren: Der Materialismus ist schlechterdings nicht beweisbar. Wenn man ihn aber nicht beweisen kann, warum sollte man dann die Welt verdoppeln, indem man außer den Vorstellungen auch noch die Dinge selbst annimmt. Das ist doch offenbar sinnlos, da es ja unmöglich ist, den Unterschied zwischen den Vorstellungen und den Dingen selbst bestimmt zu denken und anzugeben. In der Tat: Der Materialismus ist ebenso unbeweisbar wie der Idealismus. Um das Beweisen kann es hier nicht gehen. Ich möchte dafür argumentieren, dass sich der Unterschied zwischen den Vorstellungen und den Dingen selbst sehr wohl angeben und denken lässt, so dass es sinnvoll ist, von der Realität der Dinge selbst auszugehen. Das zweite Argument ist etwa so zu verstehen: Theoretischer Materialismus und Freiheit schließen einander aus. Entweder ist man Materialist, dann muss man konsequenter Weise die Möglichkeit der Freiheit leugnen, oder man behauptet die Möglichkeit der Freiheit, dann muss man zwingend eine der beiden Varianten des Idealismus denken: Entweder sind die Dinge überhaupt nur in der Vorstellung und also eigentlich Vorstellungen. Oder es gibt die Dingen zwar in der Wirklichkeit, sie sind aber nur Ausdruck des Denkens (der Menschen oder vielleicht sogar Gottes, des Geistes oder von wem auch immer). Meiner Ansicht ist Freiheit und vor allem Befreiung in erster Linie materialistisch denkbar.

3. Wie antwortet Feuerbach auf die aufgeworfenen Probleme?

Bevor ich mich mit den Marxschen Gegenargumenten beschäftigen will, möchte ich zunächst darstellen, wie Ludwig Feuerbach sich mit den Idealisten auseinandersetzt. Feuerbach[6] setzt die Existenz der wirklichen Dinge voraus. Er sagt: Wenn man die Dinge für bloße Vorstellungen von mir erklärt, wie der Idealist das tut, dann bleibe schließlich nur noch ich selbst mit meinen Vorstellungen übrig. Denn ich abstrahiere dadurch von den Dingen. Ich ziehe mich also aus der Realität der Dinge selbst und der Welt zurück, abstrahiere mich von ihnen, und bleibe mit meinen Vorstellungen allein. Denn die Gegenstände soll es nur in der Vorstellung geben. Das Denken - und speziell ein solches Denken - isoliert das denkende Subjekt. Gegen diese Selbstisolation des denkenden Subjekts hilft nur eines: Die Unterbrechung des Denkens durch die sinnliche Anschauung. Denn die Sinnlichkeit bricht die Isolation auf. In der Sinnlichkeit beziehe ich mich rezeptiv, leidend auf etwas anderes. Ich schränke - nach Feuerbach - durch die Sinnlichkeit meine (denkende) Selbsttätigkeit zugunsten der Tätigkeit des Objekts ein. Ich setze meiner Selbsttätigkeit eine Grenze und lasse die Dinge außer mir auf mich wirken.

Dass die Sinnlichkeit - und nur die Sinnlichkeit - es mir ermöglicht, mich auf Anderes - als ich es selbst bin und meine Vorstellungen - zu beziehen, das liegt daran, dass der Zusammenhang in der Welt materiell ist. Die sinnliche Anschauung ist die Fähigkeit des Subjekts, sich auf das Materielle zu beziehen. Sie ermöglicht also nicht nur Vorstellungen wie das Denken, sondern bedeutet die Konfrontation mit den Gegenständen selbst. Deswegen kann ich den materiellen Zusammenhang nur in sinnlicher Anschauung zum Aufbrechen meiner Isolation im Denken nutzen. In der sinnlichen Anschauung findet so das Denken und die Vorstellung - speziell die falsche Vorstellung - ihre Korrektur. So öffnet sich in der sinnlichen Anschauung das denkende Subjekt dem Anderen, der Welt und vor allem dem anderen Menschen, - wie sich Feuerbach ausdrückt - dem Du.

Denn wir sind auf Gegenstände angewiesen. Nur in Gegenständen finden wir unsere Befriedigung. Wir brauchen alles mögliche zum Leben, zum Arbeiten, zur Darstellung dessen, was wir sind, zur Darstellung unseres Wesens. Dasjenige, was wir zur Darstellung unseres Wesens im Besonderen brauchen, nennt Feuerbach den wesentlichen Gegenstand. Der wesentliche Gegenstand ist also dasjenige, worauf wir uns im Wesentlichen beziehen, wenn wir unser Wesen darstellen wollen. Beim Menschen ist sein Wesen die Menschheit, die ihm in einem anderen Menschen, einem "Du" - wie Feuerbach sich ausdrückt - ein sinnlicher Gegenstand ist. Der Mensch fasst also die Menschheit personifiziert in einem anderen Menschen als einen befriedigenden Adressaten seiner Betätigung auf. Der Mensch stellt sich wesentlich dem anderen Menschen als Mensch dar und findet in der Beziehung auf ihn, in der er sich zugleich als Mensch wahrgenommen sieht, seine wesentliche Befriedigung. Das Wesen des Menschen, die Menschheit, stellt sich also dar im Verhältnis der Menschen zueinander, das sich - nach Feuerbach - speziell in der Empfindung und in der Liebe zeigt. In der Empfindung zu den anderen Menschen, in der Liebe, in der Geschlechtlichkeit erweist sich, dass die Menschen ihrem Wesen nach auf andere Menschen bezogen sind, und dass nur in dieser Beziehung auf die anderen Menschen das Wesen des Menschen sich darstellen kann. Diese sinnliche Beziehung auf die anderen Menschen und die Anschauung der anderen Menschen muss und kann durch das Denken kultiviert werden, das Gefühl sensibilisiert und entwickelt werden. Aber die Anschauung und die Empfindung des anderen Menschen bleibt das für den Menschen wesentlich Befriedigende. Nur ein Mensch, der angeschaut, empfunden und geliebt wird, ist ein Mensch im eigentlichen Sinne. Denn zum Menschen gehört es, sich wesentlich auf andere Menschen zu beziehen.

Die Menschheit als solche stellt sich aber nicht in einem anderen Menschen dar. Der einzelne Mensch ist endlich, beschränkt, auch leidend; die Menschheit ist unendlich, unbeschränkt, aktiv. Die Menschen stellen sich daher die Menschheit als etwas Jenseitiges, außer den Individuen, als Gott vor. Im Christentum wird dies Geheimnis der Religion, dass Gott in Wahrheit der Mensch ist, in Christus als religiöser Inhalt geglaubt. Diese Vorstellung ist nach Feuerbach kritikwürdig, weil die Menschheit nur im Zusammenhang der einzelnen Menschen existiert. Es geht Feuerbach daher um die Kritik der Religion, die Auflösung Gottes in das Wesen des Menschen. Denn was die Menschen sich als Gott vorstellen, ist in Wahrheit das Wesen des Menschen selbst. Die Philosophie hat diese Vorstellung zu kritisieren und aufzulösen. So leistet sie als Religionskritik und Anthropologie ihren Beitrag zu einer Zukunft, in der die Menschen als wahre Menschen leben und denken.

Denn das Denken ist das Denken des Menschen. Es ist eine Tätigkeit des Menschen, der im Denken subjektiv ist, aber zugleich als Objekt von anderen Menschen angeschaut, empfunden und geliebt wird. Der wahre Mensch denkt also zwar, und das ist seine subjektive Seite; er ist aber kein Denker. Der Denker, der Philosoph, ist isoliert, nicht aber der Mensch, der denkt. Diese Idee, dass das Denken eine Tätigkeit des Menschen ist, ein Prädikat, das wir von Menschen aussagen, ist deswegen der Kern seiner Kritik am Idealismus, der auch von Marx in vollem Umfang übernommen und weiter konkretisiert worden ist. Nicht das Bewusstsein denkt, schon gar nicht das Denken, sondern der ganze Mensch. Der Denker, der Philosoph ist ein Mensch, der sich fälschlich mit seinem Denken identifiziert und sich dadurch von den Gegenständen und den Dingen selbst isoliert; der sich abstrahiert und verkümmert. Der Mensch, der denkt, ist dagegen ein für die Gegenstände und für andere Menschen offener Mensch, ein Mensch im eigentlichen Sinne des Wortes. Daraus entwickelt Feuerbach eine Art oberstes moralisches Gebot für das Philosophieren. Es lautet: Denke nie als Denker, sondern denke immer als ein Mensch, der denkt.[7]

In dieser Konzeption sind für Feuerbach die Ausdrücke Sinnlichkeit, Wirklichkeit und Objektivität gleichbedeutend. Was sinnlich ist, ist wirklich und objektiv, materiell.[8] Das Denken geht auf das Allgemeine, die Regeln. Das Wirkliche, das sinnlich angeschaut wird, ist das Einzelne, die Ausnahme, wie Feuerbach sagt: das Individuelle. Das Denken ist das Subjektive, das Anschauen ist die Beziehung auf das Objektive, das Wirkliche. Nur die sinnliche Anschauung erlaubt die Beziehung des Subjekts des Denkens auf die Wirklichkeit, die Objektivität. Damit hält Feuerbach eine bestimmte Trennung aufrecht, die auch die Idealisten für wichtig halten: Er trennt die Subjektivität, das Bewusstsein und die Idealität auf der einen Seite, von der Wirklichkeit, Objektivität und Materialität auf der anderen Seite.

4. Die erste Feuerbachthese von Karl Marx

4. a. Objektivität ist nicht gleich Materialität!

Gerade an diesem Punkt widerspricht Marx energisch. Er hält diese Identifizierung von Wirklichkeit und Objektivität für mangelhaft, ja sogar für den Hauptmangel des bisherigen Materialismus, wobei er ausdrücklich Feuerbach mit einschließt. Marx schreibt: "Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird;" Marx sagt also: Das Objekt ist nicht die Wirklichkeit schlechthin, wie der bisherige Materialismus behauptet, und ebenso wenig sind das Objekt, der Gegenstand und die Sinnlichkeit nur verschiedene Worte für dasselbe, wie Feuerbach sich das vorstellt. "Objekt" ist vielmehr nur als eine Form der Wirklichkeit zu betrachten, und zwar diejenige Form der Wirklichkeit, die der Anschauung entspricht. Die Wirklichkeit, wie sie der Anschauung erscheint, erscheint unter der Form des Objekts, das also nur eine Form der Wirklichkeit ist[9]. Wenn wir uns in der Beziehung auf die Wirklichkeit auf die sinnliche Anschauung beschränken, dann erscheint uns die Wirklichkeit allein unter der Form des Objekts. Wenn wir uns bloß als Menschen verstehen, die denken, wie Feuerbach uns das empfiehlt, dann ist die Beziehung auf die wirklichen Dinge eine bloß theoretische, und also Anschauung, der die Wirklichkeit ausschließlich unter der Form des Objekts erscheint, weshalb man auf die Idee kommen kann, Objekt und Wirklichkeit seien nur verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache. Wenn wir also die Wirklichkeit bloß als objektiv bestimmen, dann deswegen, weil wir das beschränkte Verhältnis zur Wirklichkeit, das Menschen als Theoretiker zur Wirklichkeit haben, absolut setzen und für das wahrhaft menschliche Verhältnis erklären.

Marx fährt fort: "Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv." Die andere Form, in der die Wirklichkeit erscheint, ist die sinnlich menschliche Tätigkeit, die - nach Marx - ebenso eine Form ist, unter der die Wirklichkeit, die Sinnlichkeit, der Gegenstand, betrachtet wird. Die eine Wirklichkeit, der eine Gegenstand, die eine Sinnlichkeit erscheint unter zwei Formen, nämlich unter der Form der Objektivität, nämlich als Objekt der Anschauung, und unter der Form der Subjektivität, der menschlichen Praxis. Unter der Form des Objekts, als Objekt erscheint die Wirklichkeit, Sinnlichkeit oder der Gegenstand demjenigen, der sich wie Feuerbach als Theoretiker auf sie bezieht. Denn für den Theoretiker, der wesentlich (wenn auch als ganzer Mensch) denkt, besteht die wesentli-che Beziehung auf die Wirklichkeit darin, dass er sie anschaut. Dem Anschauen stellt sie sich aber nur als Objekt dar. Unter Form der subjektiven sinnlich praktischen Tätigkeit, der Praxis erscheint sie demjenigen, der berücksichtigt, dass die Wirklichkeit, in der solche Theoretiker - als ganze Menschen - leben und die sie sich als ein Objekt vorstellen, in Wahrheit nichts anderes ist, als ein Produkt der praktischen sinnlich gegenständlichen Tätigkeit der Menschen.

Diese subjektive Seite der Wirklichkeit ist aber ebenso sehr sinnlich, wirklich und materiell. Subjektivität und Objektivität sind nach Marx nur Seiten, Abstraktionen und Betrachtungsweisen der einen materiellen Wirklichkeit. Es gibt daher - nach Marx - nicht das Objekt oder das Subjekt als selbständige und eigenständige Wesen (wie das in unserer Alltagssprache vorkommt), sondern nur die Wirklichkeit, die Sinnlichkeit, den Gegenstand, die unter diesen beiden Formen Subjektivität und Objektivität erscheinen, die als Objekt oder Subjekt einseitig erscheinen.[10]

4. b. Die relative Berechtigung des Idealismus

Die subjektive Seite der Wirklichkeit, sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis zu sein, hat der bisherige Materialismus übersehen und nicht begriffen. Er unterschied deswegen, wie bei Feuerbach zu sehen war, die Wirklichkeit als Objektivität von unserem Denken als der Subjektivität. Nach Marx aber geht der Materialismus damit dem Idealismus auf den Leim, weil er übersieht, dass erstens die menschliche Tätigkeit selbst materiell ist und zweitens die Wirklichkeit auch subjektiv zu fassen ist. Dies ist nach Marx ein großer Fehler und eine Einseitigkeit, die es dem Materialismus bisher verunmöglicht hat, auf die oben angeführten Probleme richtig zu reagieren.

Weil aber der bisherige Materialismus die Wirklichkeit nur unter der Form des Objekts der Anschauung gefasst hat, deswegen blieb die subjektive Seite der Wirklichkeit außer Acht gelassen. Diese Einseitigkeit des Materialismus enthält auch eine historische und beschränkte Berechtigung für den Idealismus, der sich im Kampf gegen den Materialismus auf diese subjektive Seite gestürzt hat. Marx schreibt: "Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt - entwickelt." Der Idealismus benutzt die vom Materialismus ignorierte tätige Seite der Wirklichkeit als ein Mittel der Auseinandersetzung mit dem Materialismus. Der Idealismus entwickelt daher die tätige Seite, macht sie zu seinem Hauptgegenstand der Forschung und des Nachdenkens und erforscht und begreift mehr und mehr diese tätige Seite nach seinen, den idealistischen Prinzipien. Die tätige Seite wird dadurch auf eine ideelle Tätigkeit verkürzt, bloß als Denken aufgefasst. Tätigsein erscheint als Denken oder doch wesentlich Denken. (Das gilt auch für Feuerbach, der das Subjektive wesentlich als Denken auffasst.) Also entwickelt - wie Marx sagt - der Idealismus diesen Begriff der tätigen Seite abstrakt und im Gegensatz zum Materialismus. Es stehen sich also Materialismus und Idealismus abstrakt gegenüber: Während der Materialismus die Objektivität der Wirklichkeit für sich gepachtet hat, und damit die Wirklichkeit insgesamt zu erfassen beansprucht, behauptet der Idealismus im idealistischen Sinne die tätige Seite der Wirklichkeit gegen den Materialismus, aber nur als ideelle oder doch wesentlich ideelle Tätigkeit, als wesentlich Denken. Insofern stehen sich Materialismus und Idealismus nicht mit gleichem Recht gegenüber. Denn während der Materialismus die objektive Seite der Wirklichkeit auch wirklich zum Gegenstand hat, gilt dies für den Idealismus nicht. Denn er kennt die sinnlich menschliche Tätigkeit, und damit die subjektive Seite der Wirklichkeit als solche nicht, sondern identifiziert sie fälschlich mit dem Denken. Das Denken wird abstrakt gegen die materielle Wirklichkeit aufgefasst, und so verselbständigt von der menschlichen Praxis. Als solches - von der sinnlich menschlichen Tätigkeit verselbständigtes - Denken ist das Denken gerade die untätige Seite des menschlichen Tuns, das Tun, das nichts tut, das bloße Bild des Tuns. Das Denken ist nur wirklich als Moment der sinnlich menschlichen Tätigkeit. Abstrahiert von ihr ist das Denken unwirklich und also in Wirklichkeit auch untätig. Deswegen stellt Marx in Bezug auf die subjektive Seite der Wirklichkeit fest, dass der Idealismus "natürlich die wirkliche sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt". Die tätige Seite, die der Idealismus entwickelt, ist nicht die wirkliche "tätige Seite", nicht die subjektive Form der Wirklichkeit als solcher. Die kennt der Idealismus gar nicht. Es handelt sich bei dem, was der Idealismus entwickelt, nicht um die subjektive Form der materiellen Wirklichkeit, sondern um das abstrahierte und verselbständigte Abbild dieser subjektiven Form der Wirklichkeit im Denken, also um das unwirkliche Moment der subjektiven Form der Wirklichkeit. Das Denken als solches tut nichts, und das Bewusstsein als solches tut ebenfalls nichts. Es sind die Menschen, die etwas tun. Nicht das Denken als solches ist die subjektive Seite der Wirklichkeit, sondern die sinnlich menschliche Tätigkeit. Die aber kennt der Idealismus genauso wenig wie der bisherige Materialismus. Die tätige Seite, die Subjektivität, die der Idealismus entwickelt, ist deswegen die nicht-wirkliche, die nicht-sinnliche Tätigkeit, die nicht-materielle, die bloß ideelle Seite der menschlichen Tätigkeit, die als solche verselbständigt wird. Der Idealismus entwickelt deswegen die tätige Seite nicht nur abstrakt im Gegensatz zum Materialismus, sondern auch abstrakt von der ihm unbekannten "wirklichen sinnlich menschlichen Tätigkeit". Nach ihm ist das Denken die eigentliche Tätigkeit, die wahre Tätigkeit. Dieser Tätigkeit steht die Materie als Objektivität gegenüber. So hat in der Auseinandersetzung des Idealismus mit dem Materialismus jede Seite ihre Domäne, von der aus sie den Gegner bekämpft, ohne ihn doch besiegen zu können, weil sich die beiden Domänen gegenseitig voraussetzen, und weil beide Gegner sich gegenseitig dasjenige überlassen, worauf der jeweils Andere Anspruch macht. Subjektivität und Objektivität der Wirklichkeit stehen sich unvermittelt gegenüber. Dasjenige, worin beide zusammenhängen, ist jedoch die Wirklichkeit selbst, und mit der hat es nur der Materialist zu tun, während der Idealist, der die wirkliche sinnlich menschliche Tätigkeit als solche nicht kennt, es nur abstrakt mit der unwirklichen Tätigkeit, dem Denken, der Tätigkeit in Vorstellungen und Bildern zu tun hat.[11]

Darin also liegt die unbewusste und vorausgesetzte Einigkeit zwischen Idealismus und bisherigem Materialismus: Die Subjektivität ist ideell, die Objektivität materiell. Diese Einigkeit ist der allem zugrundeliegende begriffliche Fehler des bisherigen Materialismus, aber auch des Idealismus, der die wirkliche tätige Seite nicht erfassen kann. Diese Einigkeit der bisherigen Materialisten mit den Idealisten ist der Grund dafür, dass die bisherigen Materialisten gegen die Idealisten keine wirklich durchschlagenden Argumente entwickeln konnten. Gegen diese Identifizierung von Idealität mit Subjektivität und Materialität mit Objektivität setzt Marx begrifflich die eine Wirklichkeit, die unter der Form der Objektivität für die Anschauung erscheint, und unter der Form der Subjektivität in der sinnlich menschlichen Tätigkeit, der Praxis. Die Idealität ist dagegen - abstrahiert von der Materialität - unwirklich. Sie ist ein Abbild der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst. Deswegen kennt der Idealist auch die sinnlich menschliche Tätigkeit als solche nicht, sondern nur ihr Abbild.

4. c. Der Unterschied zwischen Gedankenobjekten und wirklichen Objekten

Marx will nun mit dem Begriff der "sinnlich menschlichen Tätigkeit" als der subjektiven Seite der Wirklichkeit dem Idealismus auf eine neue Weise zu Leibe rücken. Er fängt mit dem ersten der beiden oben aufgeworfenen Probleme an. Er schreibt: "Feuerbach will sinnliche - von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte: aber er fasst die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit." Nach Marx gelingt es Feuerbach nicht zu bestimmen, worin der Unterschied zwischen den Gedankenobjekten und den von ihnen wirklich unterschiedenen Objekten bestehen soll. Er will wirkliche Objekte, und er weiß auch, dass es da einen Unterschied gibt und geben soll. Aber er kann ihn nicht bestimmen. Wenn man nicht in der Lage ist, zwischen den Objekten und den Vorstellungen von den Objekten einen bestimmten Unterschied anzugeben, dann fragen die Idealisten, ob es diesen Unterschied überhaupt wirklich gibt, oder ob man nicht schlicht Unsinn redet, wenn man so etwas behauptet. Feuerbach selbst ist nicht in der Lage, diesen Unterschied anzugeben. Wie kommt man zu wirklichen - von bloßen Gedankenobjekten verschiedenen - Objekten? Nicht dadurch jedenfalls, dass man diese Objekte anders anschaut oder sich andere Vorstellungen von ihnen macht. Marx beruft sich hier auf einen Unterschied ganz anderer Art, der aber dennoch einer begrifflichen Bestimmung zugänglich ist, nämlich auf die sinnlich menschliche Tätigkeit. Denn die wirkliche Tätigkeit der Menschen bringt die wirklichen Objekte hervor. Im Hervorbringen der wirklichen Objekte machen die Menschen in ihrer Gesamtheit, gesellschaftlich, selbst den Unterschied zwischen der Vorstellung, die sie von einem Objekt haben, und dem Objekt selbst. Indem die Menschen das Objekt produzieren und so das Objekt wirklich machen, stellt sich in ihrer Tätigkeit praktisch der Unterschied zwischen einem bloßen Gedankenobjekt und einem wirklichen Objekt dar. Die theoretische Bestimmung und das theoretische Anschauen eines solchen Objekts ermöglicht nicht die Unterscheidung zwischen einem Gedankenobjekt und einem wirklichen Objekt. Die wirkliche menschliche Tätigkeit, das Objekt hervorzubringen, es zu produzieren, erlaubt es dagegen, diesen Unterschied zu denken. Die wirkliche sinnlich menschliche Tätigkeit stellt deswegen auch die wirkliche, praktische Beziehung der Menschen auf die Objekte dar. Was sich Feuerbach als das Aufbrechen der Isolation des Denkers wünschte, ist nicht die sinnliche Anschauung, sondern die sinnlich menschliche Tätigkeit, die jedem Denken schon vorausgesetzt ist. Die sinnliche Anschauung ist dagegen nur ein Abbild dieser wirklichen Beziehung auf die Objekte. Im Abbild aber kann man nicht unterscheiden, ob man es mit einem Abbild eines Abbildes oder mit dem Abbild der Sache selbst zu tun hat. Im Bild - oder anders ausgedrückt, in der Vorstellung - ist es nicht möglich, zwischen dem Bild von einem Bild und dem Bild von der Sache selbst zu unterschieden. Jedes Bild könnte ein Bild eines Bildes sein; kein Bild kann aus sich selbst sichtbar machen, dass es ein Bild des Originals ist.[12] Die sinnlich menschliche Tätigkeit ergibt einen Unterschied, den man angeben kann, zwischen Vorstellungen von Dingen und den materiellen Dingen selbst, auf die sich diese Vorstellungen beziehen.

Die menschliche Tätigkeit, immer in ihrer Gesamtheit und also gesellschaftlich verstanden, ist gegenständliche Tätigkeit. Sie hat gegenständliche Voraussetzungen, die Rohstoffe und Mittel zur Herstellung der Produkte, sowie ein gegenständliches Resultat, nämlich den produzierten Gegenstand selbst. Die gegenständliche Tätigkeit stellt den materiellen und gegenständlichen Übergang von diesen Rohstoffen und Arbeitsmitteln zu den wirklich hervorgebrachten Objekten dar. Die Tätigkeit ist deswegen auch eine bestimmte Tätigkeit in dem Sinne, dass sie bestimmte Voraussetzungen, Rohstoffe und Arbeitsmittel, bestimmte Objekte zu ihrem Resultat hat und selbst als eine bestimmte Tätigkeit von anderen Tätigkeiten unterschieden ist. Sie lässt sich deswegen auch bestimmt angeben und denken. Die bestimmte wirkliche Tätigkeit ist deswegen der wirkliche Unterschied zwischen den Gedankenobjekten und den wirklichen Objekten, auf die sich Feuerbach allein durch die Anschauung beziehen zu können glaubte. Aber die Anschauung der Objekte setzt die Produktion der Objekte voraus. Objekte, die nicht produziert und bearbeitet sind, gibt es - zumindest im Deutschland von 1840 nach Marx - nicht mehr, und heute noch viel weniger.[13] Die Objekte, über deren Wirklichkeit wir hier reden, sind Produkte sinnlich menschlicher Tätigkeit, in denen diese Tätigkeit gegenständlich geworden ist, oder Voraussetzungen einer solchen produzierenden Tätigkeit. Die gedankliche Bestimmung dieser Gegenstände ist - wenn sie von der sinnlich menschlichen und gegenständlichen Tätigkeit verselbständigt ist - nur ein Abbild der Produktion dieser Gegenstände.[14] Die praktische Tätigkeit ist also nicht wesentlich Denken, das sich in Gegenständen realisiert, sondern sie ist eine materielle Tätigkeit der Menschen, die ebenso zur Wirklichkeit gehört wie die materiellen Gegenstände. Die Bestimmtheit der die Gegenstände herstellenden menschlichen Tätigkeit ist dieselbe wie die der materiellen Gegenstände selbst. Denn die Gegenstände sind nur das Resultat der sie bestimmenden bestimmten gegenständlichen Tätigkeit. Man kann deswegen die Bestimmtheit ebenso in Beziehung auf den Entstehungsprozess der Gegenstände betrachten, also in Bezug auf die gegenständliche Tätigkeit, wie auf das Resultat der bestimmten Tätigkeit, das Produkt oder Objekt. Denn die bestimmte Tätigkeit führt zu dem bestimmten Produkt, zum bestimmten Gegenstand. Marx ist daher nicht, wie Feuerbach, gezwungen, die Bestimmtheit der Wirklichkeit vorauszusetzen und in sinnlicher Anschauung hinzunehmen. Die Wirklichkeit hat ihre Bestimmtheit in der gegenständlichen Tätigkeit der gesellschaftlich produzierenden Menschen erst erhalten. Wer anschaut, muss die Bestimmtheit der Wirklichkeit hinnehmen, wer gegenständlich tätig ist, bringt diese Bestimmtheit hervor. Für Marx ist deswegen die Bestimmtheit nicht in erster Linie eine vorgefundene Bestimmtheit, sondern eine gesellschaftlich produzierte Bestimmtheit. Denn die sinnlich menschliche Tätigkeit ist nicht als die Tätigkeit von isolierten Individuen aufzufassen. Sie ist die Tätigkeit von Individuen in einem bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang. Diese Überlegung ermöglicht es, das zweite von den Idealisten aufgeworfene Problem zu betrachten, das Problem der Freiheit.

4. d. Die Möglichkeit der Freiheit materialistisch gedacht

Feuerbach übersieht diese gesellschaftliche Seite der sinnlich menschlichen Tätigkeit völlig. Für ihn hat das Tun der Menschen keine allgemeine Seite. Er betrachtet sie daher nicht als die eigentlich menschliche Tätigkeit. Das wahrhaft menschliche Verhalten schränkt er auf das theoretische Verhalten ein, also auf das Denken und die Anschauung. Er betrachtet das praktische Verhalten der Menschen als einen bloßen Ausdruck ihres Egoismus.[15] Marx charakterisiert Feuerbachs Position so: "Er (Feuerbach) betrachtet daher im ,Wesen des Christentums' nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefasst und fixiert wird." Es ist nun deutlich, warum Feuerbach das Aufbrechen der Isolation des Denkers der sinnlichen Anschauung zuschreibt. Denn es ist das theoretische Verhalten, das er als das wahrhaft menschliche Verhalten ansieht. Es geht ihm um die Öffnung des theoretischen Verhaltens der Menschen. Deswegen kommt für ihn die Praxis als Aufbrechen des reinen Denkens nicht in Betracht.

Denn in der Praxis ist es genauso wie beim Denken: Die Menschen sind nur bei sich selbst und isoliert. Sie denken in dem, was sie tun, nur an sich. Sie sind schmutzige Egoisten. Diese Auffassung Feuerbachs leitet Marx daraus ab, dass Feuerbach den gegenständlichen Charakter der sinnlich menschlichen Tätigkeit nicht begreift. Denn würde Feuerbach diesen gegenständlichen und also materiellen Charakter der menschlichen Tätigkeit begreifen, dann würde er sich nicht in erster Linie darum kümmern, was die Menschen sich vorstellen oder meinen, wenn sie materiell tätig sind, sondern um das, was in diesem Falle wirklich praktisch und materiell geschieht. Dass es den Menschen bei ihrem materiellen Tun nur um sich selbst geht, das ist in einer Gesellschaft von Menschen, die Waren produzieren - und in einer solchen Gesellschaft lebt Feuerbach - in gewissem Sinne der Fall. Aber sie tun, was sie tun, in gesellschaftlichen Zusammenhängen, die sie berücksichtigen müssen, um ihren Egoismus, oder besser ihre Interessen zu befriedigen. Denn in einer warenproduzierenden Gesellschaft von privaten Produzenten sind sie notwendig als "Egoisten", wenn man so will, tätig. Aber um als Privatproduzenten erfolgreich zu sein, müssen sie etwas tun oder produzieren, was als ein gesellschaftliches Tun, als ein gesellschaftliches Produzieren auf dem Markt anerkannt ist. Wie immer sie also egoistisch tätig sein wollen, ihr wirkliches und materielles Tun muss eine allgemeine, gesellschaftlich notwendige Seite haben, damit sie mit ihren Produkten auf dem Markt bestehen können, oder anders gesagt, damit sie ihre egoistischen Interessen befriedigen können. Diese allgemeine Seite sieht Feuerbach aber lediglich im theoretischen Verhalten der Menschen zueinander verwirklicht.

Zu dieser allgemeinen Seite gehört die gesellschaftliche Brauchbarkeit des privat produzierten Produkts. Was nicht brauchbar ist, kann nicht getauscht oder verkauft werden, und dient also nicht den egoistischen Interessen des Warenproduzenten. Aber das ist nur die inhaltliche Seite des allgemeinen Moments der gegenständlichen Tätigkeit der Menschen. Indem man nämlich Gegenstände als Waren produziert, produziert man Dinge, die als solche gerade nicht für den eigenen Gebrauch bestimmt sind. Im Gegenteil sind diese Waren für andere Menschen produziert, die sich diese Waren als Gebrauchsgegenstände erwerben und verbrauchen sollen. Mit dem Erlös, den man mit diesen Waren erzielt, muss man versuchen, die anderen Gegenstände, die man zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse insgesamt braucht, zu beschaffen. Daher ergibt sich aus dem Verhältnis der Warenproduzenten zwingend die einseitige - und insofern auch falsche, aber notwendige - Perspektive des Egoismus. Er ist Ausdruck der ökonomischen Trennung der Menschen von den Gegenständen, die sie zum Leben brauchen. Diese Trennung macht sie unter einem gewissen Gesichtspunkt zwingend zu Egoisten, weil sie (fast) alles, was sie zum Leben brauchen, von anderen Menschen erwerben müssen. Indem man aber Waren produziert und sie auf dem Markt anbietet, reproduziert man dieses gesellschaftliche Verhältnis: Man sorgt - wenn auch weder freiwillig noch bewusst - dafür, dass es Warenbesitzer gibt und damit zugleich auch solche, die sich die Waren beschaffen müssen. Man hat gar keine andere Wahl, als die gesellschaftlichen Verhältnisse der warenproduzierenden Gesellschaft mit wiederherzustellen. (Dasselbe gilt für Lohnarbeiter, die nur gegen Profit arbeiten können und deswegen mit ihrer Arbeit notwendig den Profit vermehren.) Das gegenständliche Tun eines Warenproduzenten hat also im doppelten Sinne eine allgemeine Seite, auch dann, wenn man Egoist ist:

  • nach der Seite des Inhalts dessen, was man produziert: Denn man muss Gegenstände produzieren, die allgemein gebraucht werden, nach denen gesellschaftlicher Bedarf in Form von zahlungskräftiger Nachfrage besteht, um davon leben zu können. (Oder man muss seine Arbeitskraft verkaufen, um im Unternehmen die Waren zu produzieren, die der Kapitalist mit Gewinn verkauft.)
  • nach der Seite der Form dessen, was ich produziere: Denn man muss als privater Produzent (und das ist der Egoist) oder als Lohnarbeiter Waren produzieren, die andere kaufen können, und damit die gesellschaftlichen Verhältnisse des sogenannten "Marktes", bzw. als Lohnarbeiter den Profit, mitproduzieren, um Waren, bzw. die eigene Arbeitskraft als Ware, anbieten zu können.
  • Indem aber der Warenproduzent oder der Lohnarbeiter die gesellschaftlichen Verhältnisse der Warenproduktion mit hervorbringt, produziert er zugleich auch jene "Egoisten", die Feuerbach für den Ausdruck des praktischen menschlichen Wesens hält. Diese "Egoisten" sind selbst Produkte der warenproduzierenden Menschen. Sie bestehen des näheren darin, dass die Menschen das, was sie tun, der ökonomischen Form nach nicht beherrschen und deswegen - unfreiwillig und zumeist auch unbewusst - die vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse reproduzieren. Der sogenannte "Egoist" ist ein Mensch, der nicht weiß, was er tut, der sich in seiner Vorstellung unbewusst auf eine Seite seines Tuns reduziert.

Diese allgemeine Seite des gegenständlichen Tuns übersieht Feuerbach völlig. Deswegen fasst er die Praxis nur in ihrer - wie Marx sich ausdrückt - "schmutzig jüdischen Erscheinungsform" auf, das heißt als eine egoistische Praxis. Indem er der Praxis dieses allgemeine Moment abspricht, übersieht er den in ihr wirksamen gesellschaftlichen Zusammenhang der Warenproduzenten, der sowohl inhaltlich wie auch der ökonomischen Form nach an ihrem Tun zum Ausdruck kommt. Damit legt er die menschlichen Individuen auf ein bestimmtes Verhältnis zu ihrer Praxis fest. Marx verwendet dafür den - damals üblichen - philosophischen Fachausdruck "fixieren", der "festlegen auf", "verhaften bei" oder "als unveränderlich denken als" bedeutet. Die menschliche Praxis wäre demnach als unveränderlich egoistische Praxis aufzufassen.

Aber dabei übersieht Feuerbach eine weitere Bedeutung der "gegenständlichen Tätigkeit". Denn die Tätigkeit ist zwar gegenständlich, insofern sie gegenständliche Voraussetzungen, Mittel und Resultate hat und auch insofern sie selbst ein gegenständlicher, materieller Vorgang ist. Aber sie ist als materieller Vorgang auch selbst - zunächst unbewusster - Gegenstand der menschlichen Praxis: In der Produktion verändern die Menschen sich selbst und ihre Art zu produzieren, sowohl was sie produzieren als auch, wie sie es produzieren.[16] Wenn aber das Produzieren Gegenstand eines unbewussten Moments der Praxis ist, dann können sich die Menschen dieses Moment ihres Tuns auch bewusst machen. Die gegenständliche Tätigkeit der Menschen ist selbst ein möglicher Gegenstand ihrer bewussten Tätigkeit. Es ist deswegen nicht richtig, das Verhältnis der Menschen zu ihrer eigenen Praxis unhistorisch festzuschreiben, bzw. als unveränderlich zu denken, oder zu "fixieren". Im Gegenteil: Indem die Menschen gegenständlich tätig sind, bezieht sich ihre Tätigkeit zugleich auf sich als Tätigkeit und verändert sich und die Menschen. So entsteht eine von den Menschen gemachte, wenn auch unbewusst gemachte Geschichte. Aber damit ist die gegenständliche Tätigkeit zugleich ein möglicher Gegenstand bewusster Praxis. Die Menschen können sich daher aktiv und bewusst mit dieser ihrer eigenen unbewussten Praxis auseinandersetzen, sie selbst zum Gegenstand einer Tätigkeit machen, weil sie gegenständliche Tätigkeit ist. Diese bestimmte menschliche Tätigkeit, in der sich die Menschen mit dem, was sie produzieren, und in den ökonomischen Formen, in denen sie produzieren, auseinandersetzen, nennt Marx die "revolutionäre Tätigkeit", deren Bedeutung Feuerbach nicht begreift.

Feuerbach dagegen sieht das theoretische Verhalten der Menschen als das eigentlich menschliche Verhalten an. Deswegen hält er die Kritik an der Religion, die theoretische Auflösung der Religion in das Wesen des Menschen, der Theologie in die Anthropologie für das Gebot der Zeit. Marx stimmt dem zu und sagt: Diese Kritik sei der erforderliche Anfang einer jeden theoretischen Kritik. Aber diese Feuerbachsche Kritik an der Religion reicht ihm nicht aus. Denn sie bleibt eine theoretische Kritik. Marx fordert dagegen die wirkliche Veränderung, die praktisch-kritische oder eben revolutionäre Tätigkeit. Dieser Begriff ist zu schwierig um ihn hier eingehend zu behandeln. Das wird der Gegenstand eines eigenen Vortrags sein müssen. An dieser Stelle reicht es aus, zu verstehen, dass Marx die Religionskritik für einen guten Anfang der theoretischen Kritik hält, dass er aber eine völlig andere Kritik für notwendig hält, nämlich eine solche Kritik, die sich praktisch kritisch und verändernd mit der gegenständlichen Tätigkeit der Menschen auseinandersetzt.

Deswegen ist es offenbar abwegig, die dialektischen Materialisten mit dem Vorwurf konfrontieren zu wollen, ihre Philosophie sei Ausdruck eines "schlaffen Charakters", indem sie die Menschen als notwendig unfrei auffassen müssten. Denn die Materialisten erkennen allerdings, dass die Menschen unfrei sind, weil eine entscheidende Seite ihrer Tätigkeit, nämlich die ökonomische allgemeine Form ihrer Tätigkeit, unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen unbeherrscht ist. Die Materialisten erkennen in diesen bestimmten Produktionsverhältnissen die Ursachen dieser Unfreiheit, aber nicht, um sich in der Unfreiheit einzurichten, sondern um die wirkliche Befreiung als möglich zu begründen. Für die dialektischen Materialisten ist es ein Widerspruch, sich selbst als unfrei zu erkennen. Man kann sich nicht als unfrei erkennen, ohne den Versuch zu unternehmen, sich zu befreien. Das ist ein Widerspruch in sich. Aber diese erforderliche Befreiung macht eine praktische und wirkliche Auseinandersetzung mit der eigenen gegenständlichen Tätigkeit notwendig. Dafür ist eine theoretische Kritik dieser Tätigkeit wichtig. Entscheidend ist aber letztlich die praktisch-kritische, die wirkliche Tätigkeit des Veränderns der Wirklichkeit, eine wirkliche praktische Kritik. Denn es sind Menschen, die denken. In Wirklichkeit unfreie Menschen können nicht frei denken. Es ist eine unter Theoretikern gerne gesehene Illusion zu glauben, dass in Wirklichkeit unfreie Menschen im Denken frei sein könnten.[17] Die wirkliche Befreiung zu versuchen, ist daher nicht Ausdruck eines schlaffen Charakters, sondern erfordert im Gegenteil offenbar eine enorme theoretische und praktische Kraftanstrengung, die nichtsdestoweniger eine jetzt eintretende geschichtliche Notwendigkeit zu sein scheint. Dafür ist eine Kritik des sogenannten "realen Sozialismus" und eine kritische Beschäftigung mit der Theorie für Marx und Engels notwendig.

Kann man das nach dem Scheitern des "realen Sozialismus" noch sagen? Das frage ich mich auch. Aber ich weiß nichts Besseres. Notwendig wäre eine Kritik an den Theorien von Marx und Engels, die sowohl ihrem Anspruch wie unseren Problemen gerecht wird. Eine Voraussetzung dafür wäre das Verständnis dieser Theorien. Wenn ich dazu beigetragen hätte, wäre ich mehr als zufrieden. Denn nur, was man zum Gegenstand des Nachdenkens macht, wird man letztlich kritisieren und produktiv überwinden können, indem man es besser macht. Es einfach anders zu machen - das haben die Jahre seit dem Zusammenbruch des "realen Sozialismus" gezeigt - reicht nicht aus. Denn so schmerzlich für manchen die Erfahrung auch sein mag: Kapitalismus beseitigt nicht Unterdrückung und Unfreiheit, er bringt sie hervor. Befreiung setzt die Überwindung des Kapitalismus voraus. Die bisher einzige Theorie, die eine solche Überwindung als denkbar erscheinen lässt, ist die von Marx und Engels. Hier gilt es anzuknüpfen.


Fußnoten

  1. Mein Ziel ist es nicht, hier die Widerspiegelungstheorie darzustellen, sondern mich mit der Besonderheit des Materialismus von Marx zu beschäftigen. Die Kritik an der Widerspiege-lungstheorie ist zu einer Mode geworden, so dass ich hier wenigstens zum Ausdruck bringen möchte, dass ich denke, dass die Beschäftigung mit ihr lohnt, und dass sie nicht nur besser ist, als sich das ihre Kritiker deutlich machen, sondern vor allem besser als die meisten Kritiken selbst. Die Gedankenlosigkeit, mit der das Bild abgelehnt wird, in dem das Denken mit einem Abbilden verglichen wird, kontrastiert beispielsweise merkwürdig mit der Tatsache, dass die Kritiker selbst nur in Bildern vom Denken sprechen und sprechen können. Das Denken wäre demnach "wie ein Handeln", "wie ein Sprechen" oder welches Bild auch immer herangezogen wird. (Aber natürlich nicht wie ein Abbilden!) So scheinen diese Kritiker in der Tat, also indem sie anfangen, ihre Positionen darzulegen, ihren Worten zu widersprechen. Sollte das ein Zufall sein?
  2. Dieses Argument lässt sich auch unmittelbar im Sinne eines dialektisch materialistischen Arguments umkehren. Denn man sieht daran, dass die Vorstellungen keine Wirklichkeit haben, weil sie sich nur auf eine äußerliche Weise auf sich selbst beziehen. Die Vorstellung lässt sich nur auf eine so äußerliche Weise mit einer Vorstellung der Vorstellung vergleichen, wenn die Selbstbeziehung oder Reflexivität der Vorstellung bloß eine äußerliche ist, die der Vorstellung nicht immanent ist. Das hat sie mit dem Bild gemein: Auch das Bild lässt sich abbilden und dann mit dem ersten Bild vergleichen usw. usf. bis ins Unendliche, ohne dass man dadurch je zu einem ersten Gegenstand käme, der nicht im Bild ist. Aber nur das ist wirklich, was seine Selbstbeziehung nicht auf eine solche äußerliche Weise erfährt, sondern immanent reflexiv ist. Dem stimmen auch die Idealisten zu, beschränken aber diese Reflexivität auf das denkende Ich, während sie der Materie und der materiellen Welt diese Reflexivität absprechen. Darauf wird noch einzugehen sein.
  3. Die Widerspiegelungs- oder Abbildtheorie des Denkens hat eine polemische Seite, die mit diesem "nur" gut eingefangen wird. Das Denken ist nur ein Abbild, weil ihm das Moment der Selbständigkeit fehlt. Es bedarf, weil das Bild ein Verhältnis dreier wirklicher Gegenstände (des abgebildeten Dinges selbst, des Trägers der Abbildung und dessen, für den das Bild ein Bild ist, im Falle des bewusster Abbildung fallen Bildträger und der, für den das Bild ein Bild ist, zusammen.) voraussetzt, etwas, das außerhalb des Bildes ist, damit es ein Bild überhaupt geben kann. Ohne Spiegel, ohne Foto, ohne Leinwand, oder eben ohne Mensch kann es ein Bild ebenso wenig geben, wie ohne einen abgebildeten Gegenstand. Denn ein Bild setzt das Verhältnis zwischen einem abgebildeten Gegenstand und dem Gegenstand, der das Bild zu enthalten scheint, voraus. (Besonders sogenannte motivgleiche Bilder zeigen deutlich, dass sich Gegenstände als Bilder auf etwas beziehen, was außer ihnen ist. Sonst wären motivgleiche Bilder gar nicht möglich. Denn das, was bei diesen Bildern das Gleiche ist, ist - darin liegt der Witz bei motivgleichen Bilder - gerade nicht im Bild zu sehen. Aber selbstverständlich stellt sich jeder Betrachter diesen Inhalt, dieses Motiv irgendwie vor.) Die Unselbständigkeit des Bildes wie des Denkens, diese Abhängigkeit von wirklich Denkenden, die selbst nicht bloß gedacht sind, und wirklichen Gegenständen des Denkens, die ebenso wenig bloß gedacht sind, kommt in diesem "nur" schön zum Ausdruck. Zur Berechtigung dieses "nur" wird ein Argument noch geliefert.
  4. Am nachdrücklichsten hat Fichte diesen Vorwurf formuliert in seiner Schrift "Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre". Zunächst stellt Fichte dar, dass sich Idealismus und Dogmatismus (gemeint ist Materialismus) gegenseitig nicht zwingend widerlegen können. Dann beschreibt er die Menschheit als in einer geschichtlichen Entwicklung vom Materialismus zum Idealismus befindlich, um dann mit folgender Bemerkung den Gipfel der Polemik zu liefern: "Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist; denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen und annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat. Ein von Natur schlaffer oder durch Geistesknechtschaft, gelehrten Luxus und Eitelkeit erschlaffter Charakter wird sich nie zum Idealismus erheben." (Johann Gottlieb Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. In Fichte. Sämtliche Werke, Band 1, S. 434.)
  5. So bestimmt etwas Hegel die Freiheit als Freiheit des Denkens. Er beschreibt diese Freiheit als das Resultat der Arbeit des Knechts, der den Dingen überhaupt die menschliche Form gibt, in der sich die Menschen dann selbst sehen, wenn sie auch nicht die Arbeit des Knechts darin erkennen. Zugleich bildet sich in der Arbeit des Knechts das den Formen entsprechende Bewusstsein. So sind die Menschen nicht mehr von Fremdem umgeben und damit frei. Die Freiheit des Denkens besteht darin, dass das Bewusstsein sich seiner Einheit mit den bestimmten Seienden unmittelbar bewusst ist. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. S. 137)
  6. Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft.
  7. "Hieraus ergibt sich folgender kategorischer Imperativ. Wolle nicht Philosoph sein im Unterschied vom Menschen, sei Nichts weiter als ein denkender Mensch; denke nicht als Denker, ... denke als lebendiges wirkliches Wesen." Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. § 51.
  8. Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. § 32.
  9. Für die Alltagssprache sind die Ausdrücke "das Objekt" und "der Gegenstand" gleichbedeutend, zumal "Objekt" nichts anderes ist als der lateinische Ausdruck für Gegenstand. Bei Marx ist das nicht so. Marx unterscheidet zwischen Objekt und Gegenstand, wenn auch der Gegenstand notwendig als Objekt erscheint.
  10. Es ist eine gewissen Zeit lang Mode gewesen, den "subjektiven Faktor" mit dem Gefühl oder dergleichen zu identifizieren. Man stellte den "subjektiven Faktor" als das Gefühl dem Objektiven, der Wirklichkeit und dem Denken, gegenüber. So etwas liegt Marx völlig fern. Was immer man unter Gefühl versteht, es ist etwas Ideelles. Wenn Marx von der subjektiven Seite spricht, dann meint er damit die sinnlich gegenständliche Tätigkeit, die materiell ist, also nicht ideell. Das Gefühl mag für das "Subjektivitätsempfinden" von sehr großer Bedeutung sein, aber der Begriff der Subjektivität ist bei Marx einer Seite der Wirklichkeit vorbehalten, nämlich der materiellen Tätigkeit der Menschen.
  11. Es ist deswegen abwegig, die von Marx hier angesprochene "subjektive Seite" mit dem Denken zu identifizieren, wie das gelegentlich geschieht. Marx spricht gerade nicht vom Denken, wenn er von der sinnlich-menschlichen Tätigkeit spricht. Wenn man Subjektivität und Denken mit einander identifiziert, dann teilt man nach Marx den Hauptmangel des bisherigem Materialismus. Denn darin war er sich mit dem Idealismus bisher einig, dass Subjektivität und Denken dasselbe sei. Dagegen richtet sich Marx hier in erster Linie.
  12. Dieses Problem führte oben zu dem Problem des unendlichen Vergleichens von Vorstel-lungen von den Dingen und zeigt, dass die Vorstellungen etwas außer ihnen brauchen, was sie vorstellen. Vgl. dazu Klaus Peters: Sehen wir im Spiegel das Dinge selbst? In: Hans Heinz Holz: Formbestimmtheiten von Sein und Denken. Aspekte einer dialektischen Logik bei Josef König. Köln, 1982.
  13. Wie aber verhält es sich mit natürlichen Gegenständen, die nicht produziert sind? Die äußere Natur ist der menschlichen Tätigkeit vorausgesetzt, und sie hat Priorität, wie Marx sich ausdrückt. Aber die natürlichen Gegenstände sind zugleich Voraussetzungen der sinnlich menschlichen gegenständlichen Tätigkeit und gehen insofern in diese Tätigkeit ein. So betrachtet sind sie zwar nicht produzierte Gegenstände, aber Gegenstände, die in der Produktion eine Rolle spielen, und auf die sich die Menschen in der Produktion - auch praktisch - beziehen.
  14. In der Tätigkeit der Produktion werden diese Gegenstände praktisch bestimmt, denn sie sind so, wie sie sind, weil in ihre Produktion diese bestimmten Voraussetzungen und diese bestimmte Tätigkeit eingegangen ist. Diese praktische materielle Bestimmung wird der theoretischen Bestimmung, in der ein Theoretiker angibt, wie ein Gegenstand bestimmt ist, vorausgesetzt und von diesem Theoretiker in einem abbildend subjektiven Akt "bestimmt".
  15. Feuerbach schreibt im "Wesen des Christentums": "Die praktische Anschauung ist eine schmutzige, vom Egoismus befleckte Anschauung. Ich verhalte mich hier zu einem Dinge nur um meinetwillen. Um sein selbst willen schaue ich es nicht an; es ist mir vielmehr im Grunde ein verächtliches Ding, wie ein Weib, das nur um des sinnlichen Genusses willen Gegenstand ist. Die praktische Anschauung ist nicht in sich befriedigte Anschauung, denn ich verhalte mich hier zu einem mir nicht ebenbürtigen Gegenstand. Die theoretische Anschauung dagegen ist eine freudenvolle, in sich befriedigte, selige Anschauung, denn ihr ist ihr Gegenstand ein Gegenstand der Liebe und der Bewunderung, er stahlt im Lichte der freien Intelligenz wunderherrlich wie ein Diamant, durchsichtig wie ein Bergkristall; die Anschauung der Theorie ist eine ästhetische Anschauung, die Anschauung der Praxis ist eine unästhetische." (Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. In: Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke, Band 5. Hrsg. Werner Schuffenhauer. Berlin, 1984, S. 333)
  16. Dies ist geradezu der Begriff des Produzierens bei Karl Marx und Friedrich Engels. Sie schreiben in "Deutsche Ideologie" (Marx, Engels, Werke, Band 3, S. 21): "Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst." Die Reflexivität des Produzierens, dass man nicht produzieren kann, ohne die Art und Weise zu produzieren selbst zu bearbeiten, wird in derselben Schrift Seite 28 ff. des Näheren entwickelt. Das Produzieren der Menschen ist ein sich auf sich selbst beziehender, und also reflexiver Akt, dessen Reflexivität nicht bewusst und schon gar nicht die Reflexivität des Bewusstseins ist. Umgekehrt ist die Reflexivität des Bewusstseins nach Marx und Engels ein ideeller Ausdruck der wirklichen Reflexivität des Produzierens.
  17. Eine solche Illusion ist bei allen Versuchen, eine Elite, eine theoretische Führungsgruppe, herauszubilden, das grundlegende Problem. Es ist von Platon in dem Dialog "Gorgias" aufgeworfen worden: Der Herrschende - dort der Redner oder der Tyrann - ist notwendig unfrei. Denn er kann sich selbst nicht beherrschen. Was er tut, ist Ausdruck seiner Herrschaft. So ist es mit der sogenannten "Elite" auch. Was immer die der Elite angehörenden Menschen tun, es ist Ausdruck ihrer elitären und herausgehobenen Stellung, die das Tun und Denken dieser Menschen beherrscht. Die elitären Menschen sind notwendig nicht in der Lage, diese ihre elitäre Stellung selbst zu beherrschen, weil das der Elite begrifflich widerspricht. Deswegen sind Eliten ethisch nicht vertretbar und nicht zu verantworten gegenüber den Individuen, die diesen Eliten angehören. Dass die solchen Eliten Angehörenden selbst diesen Mangel nicht sehen, ja noch nicht einmal über diese Gefahr nachdenken, ist nur der - keineswegs zufällige - Ausdruck jenes ethischen Mangels, der Eliten notwendig eigen ist. Auch der Tyrann glaubt, frei zu sein.