Texte:Phaenomenologie6

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Über den Aufbau der Phänomenologie des Geistes
4.2. Herrschaft und Knechtschaft
von Stephan Siemens

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Resultat der ersten Erfahrung des Selbstbewusstseins ist, dass es als Begierde sich nur als ein bloß Lebendiges realisiert. Seine Befriedigung als Selbstbewusstsein findet es jedoch nur in seiner Realisierung als Selbstbewusstsein. "Erst hierdurch ist es in der Tat; ..." (S. 127) Eine solche Realisierung findet es an sich in einem anderen Selbstbewusstsein, wodurch der Begriff des Geistes erreicht ist, das allgemeine Selbstbewusstsein als das füreinander Sein einander entgegengesetzter Selbstbewusstseine. Dieser Begriff wird von Hegel vorab an sich bestimmt als die Bewegung der Anerkennung, weil die Fortentwicklung des Selbstbewusstseins nur verständlich ist, wenn die Richtung der Entwicklung für uns als Begreifende sichtbar ist. Zugleich setzt die darzustellende Erfahrung des Todes voraus, dass an sich das allgemeine Selbstbewusstsein erreicht ist. Der Begriff des allgemeinen Selbstbewusstseins ist die Voraussetzung des Verständnisses der Bewegung seiner eigenen Realisierung.128

Das Verhältnis der beiden Selbstbewusstseine ist bestimmt durch die Verneinung ihrer selbst als bloß Lebendiger. Als Lebendige, unmittelbares Leben, sind sie bloß für Anderes. Als unmittelbar vermittelt sind sie, wie sich in der Bewegung des "Bewusstseins"-Abschnitts zeigt, durch Anderes vermittelt. Die Vermittlung durch ein Anderes widerspricht dem Begriff des Selbstbewusstseins, insofern das Andere als solches aufgehoben, nicht ein Anderes ist. An die Stelle der Vermittlung durch ein Anderes tritt im Laufe des Prozesses der Anerkennung die Vermittlung durch sich selbst. Das Andere, das das Selbstbewusstsein vermittelt, kann nur Moment des Selbstbewusstseins selbst sein. Dies setzt voraus, dass das Selbstbewusstsein seinerseits das andere vermittelt, so dass eine wechselseitige Bewegung des Sich-Vermittelns entsteht, die als realisierte Bewegung das allgemeine Selbstbewusstsein ist. Die Einheit der sich wechselseitig vermittelnden Selbstbewutsstseine als allgemeines Selbstbewusstsein vergleicht Hegel mit dem "Spiel der Kräfte ..., aber im Bewusstsein." (S. 129)

Die Bewegung, worin sich die Selbstvermittlung der Selbstbewusstseine realisiert, ist die der Anerkennung. Jedes Selbstbewusstsein realisiert seine Unendlichkeit in der gesamten Bewegung: zunächst, indem es außer sich kommt und sich im Anderen findet. Jedes negiert sein Sein im Anderen, indem es das Andere aufzuheben versucht. Dabei nimmt es zugleich sich zurück, kehrt in sich zurück und erkennt das andere Selbstbewusstsein als das Andere an, lässt es "frei" (S. 128). Beide Selbstbewusstsein machen diese Bewegung gegeneinander, aber auch gegen sich selbst, so dass eine doppelt in sich verschränkte Bewegung gegen sich und gegen ein anderes Selbstbewusstsein resultiert, in der jedes sieht, wie, was es tut, es vom anderen Selbstbewusstsein zugleich erfährt, und seinerseits dem Anderen zeigt, dass es ebenso tut, was es erfährt, ebenso aber gegen sich tut, was es gegen das andere tut, wie es das andere Selbstbewusstsein auch tut. Das Resultat ist die Selbstvermittlung der Selbstbewusstseine im allgemeinen Selbstbewusstsein, die gedoppelte Reflexion, worin beide ihr unmittelbares Fürsichsein aufgehoben haben, aber in sich als selbstvermittelte zurückgekehrt sind.

"Jedes ist dem anderen die Mitte, durch welches jedes sich mit sich selbst
vermittelt, und zusammenschließt, und jedes sich und dem anderen unmittelbares
für sich seiendes Wesen, welches zugleich nur durch diese Vermittlung so für
sich ist. Sie anerkennen sich als sich gegenseitig anerkennend." (S. 129)

Der Begriff des Geistes ist an sich bestimmt als der Prozess der gegenseitigen Anerkennung, der die Realisierung des allgemeinen Selbstbewusstseins im Verhältnis einzelner Selbstbewusstseine ist. Diese Realisierung wird in ihrer anfänglichen Äußerlichkeit aufgenommen, worin die Mitte noch nicht hervorgetreten ist und der Geist als das allgemeine Selbstbewusstsein als das zunächst noch ungleiche Verhältnis seiner Momente erscheint. Die Ungleichheit zeigt sich im Grad der Allgemeinheit der Selbstbewusstseine. So stellt sich der Anfang dieser Bewegung als Gestalt des partikulären Urteils des Geistes dar, worin sich ein Selbstbewusstsein gegen ein Anderes als das allgemeine behauptet: Ich bin im Gegensatz zum anderen Selbstbewusstsein - ein allgemeines Selbstbewusstsein.

Das Selbstbewusstsein, das wir betrachten, ist aber für sich bestimmt nur durch die widerlegende Bewegung seiner als Begierde, worin es sich als bloß lebendig erwies. Die Widerlegung dieser Bestimmtheit muss es für sich noch realisieren, durch die zunächst unmittelbare - abstrakte - Negation seiner bloßen Lebendigkeit und seiner Begierde im Kampf auf Leben und Tod, den es mit dem anderen Selbstbewusstsein eingeht.: Beide Selbstbewusstseine setzen ihr Lebendigsein, die Angriffsfläche, die sie selbst bieten, ihr Sein für Anderes, als bloßes Mittel ein, um das jeweils Andere als Lebendiges aufzuheben und negieren so ihre bloße Lebendigkeit je an ihnen und aneinander wirklich.

"Die Darstellung seiner aber als der reinen Abstraktion des Selbstbewusstseins
besteht darin, sich als reine Negation seiner gegenständlichen Weise zu zeigen, 
oder es zu zeigen, an kein bestimmtes Dasein geknüpft, an die allgemeine
Einzelheit des Daseins überhaupt nicht, nicht an das Leben geknüpft zu sein." (S. 130)

Beide Selbstbewusstsein behaupten sich unmittelbar assertorisch als allgemein und entsprechen so dem singulären Urteil der Gestalt: Ich bin ein allgemeines Selbstbewusstsein. Sie verneinen ihr bloßes Gegenständlichsein, ihr Sein für Anderes, indem sie sich selbst in ihrem bloßen Sein und den Anderen in seiner Gegenständlichkeit aufheben, und bewähren so ihr reines, abstraktes Fürsichsein. Die Bewährung ihrer Behauptung ist ihr Tod als unmittelbare Negation ihrer als Lebendiger. Aber der Tod negiert zwar die Kämpfer als Lebendige, zugleich aber auch die Darstellung ihrer Freiheit für sie selbst, so dass die Anerkennung nicht erreicht wird.

"Durch den Tod ist zwar die Gewissheit geworden, dass beide ihr Leben wagten,
und es an ihnen und an dem andern verachteten; aber nicht für die, welche
diesen Kampf bestanden. Sie heben ihr in dieser fremden Wesenheit, welches das
natürliche Dasein ist, gesetztes Bewusstsein, oder sie heben sich, und werden,
als die für sich sein wollenden Extreme, aufgehoben." (S. 131)

Sie haben sich als Lebendige verneint und lassen "einander nur gleichgültig, als Dinge, frei" (S. 131). Ihr Verhältnis als ein solches von Dingen bleibt erhalten. Darin sind sie insofern frei, als sie einander gleichgültig sind. Aber wie die Extreme des Verhältnisses tot sind, so ist es auch das Verhältnis selbst, welches in die "tote Einheit" (S. 131) zusammenfällt. Was zur Anerkennung fehlt, ist die Lebendigkeit der Momente ebenso wie die des Verhältnisses. Das Verhalten der lebendigen Momente, die als solche Selbstverhältnisse sind, ist in der Anerkennung zugleich das Verhalten zu ihrem Verhältnis, so dass sich im Verhältnis das Selbstverhältnis durch das Verhalten der Momente zueinander realisiert. Dieses Leben fehlt ebenso den Extremen wie dem Verhältnis als solchem.

Diese "Erfahrung" (S. 132) zeigt, dass die unmittelbare - bloß natürliche - Verneinung der Selbstbewusstseine als - bloß natürlicher - Lebendiger zugleich sie als Füsichseiende aufhebt, um deren Realisierung es in der Bewegung des Kampfes geht. Der unmittelbare Versuch, sich selbst durch die Ausschließung des anderen Selbstbewusstseins und seines als des bloß Lebendigen zu vermitteln, die Momente des Fürsichseins und des Seins-für-Anderes in eine Einheit zu setzen, führt nicht zur Anerkennung und ist widerlegt. Es erweist sich, dass das "reine" Selbstbewusstsein des anderen, ihm entgegengesetzten Moments bedarf, um sich zu realisieren. Die widerlegende Bewegung, als bestimmende aufgefasst, verteilt beide an sich notwendigen Momente des Für-Anderes-Seins und des Fürsichseins als einander entgegengesetzte an die einander gegenüberstehenden Selbstbewusstseine. Eines der entgegengesetzten Selbstbewusstsein, der Herr, das im Kampf siegt, realisiert für sich das Moment des reinen Selbstbewusstseins und lässt es sich durch das im Kampf unterlegene andere Selbstbewusstsein, den Knecht, vermitteln, der so als Sein für Anderes, als bloßes Bewusstsein auftritt. Indem der Herr sich als Individuum behauptet und sich so gegen den Knecht als Allgemeinheit setzt, realisiert er in seiner Erfahrung das partikuläre Urteil der Gestalt: Einige sind allgemein, andere nicht.

Der Herr setzt sich als fürsichseiend, realisiert sich aber durch die Vermittlung des Knechts, der ihm als allgemeines Lebens-Mittel dient, indem er ihm die Dinge zum unmittelbaren Genuss bearbeitet. Der Herr bedroht den Knecht, nicht nur unmittelbar, sondern zugleich vermittels der Kette, die den Knecht an das Sein bindet, derentwegen er den Kampf auf Leben und Tod verliert. Der Herr realisiert sich so als Herr, indem er zum Selbstgenuss gelangt und zugleich vom Knecht anerkannt wird. Denn der Knecht verzichtet auf sein Fürsichsein, indem er, was er tut, wesentlich dem Herrn zuschreibt, der als "reine negative Macht" (S. 133) plant. Aber der Herr anerkennt nicht den Knecht, so dass sein Wesen, das er realisiert, sich verkehrt und nicht das Fürsichsein, sondern im Gegenteil das Sein für Anderes ist. Indem der Herr sich unmittelbar genießend zu den durch den Knecht vermittelten Dingen verhält, verschwindet ihm die gegenständliche Bewährung. Das realisierte gegenständliche Wesen des Herrn, seine Wahrheit als seiend, ist nur der Knecht, den er nicht anerkennt.

"Das unwesentliche Bewußtsein ist hierin für den Herrn der Gegenstand, welcher
die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst ausmacht. Aber es erhellt, daß dieser
Gegenstand seinem Begriffe nicht entspricht, sondern sich darin, worin der Herr 
sich vollbracht hat, ihm vielmehr etwas ganz anderes geworden, als ein
selbständiges Bewusstsein." (S. 133f)

Die Gewissheit der Selbständigkeit des Herrn verkehrt sich in ihrer Realisierung in die Wahrheit ihres Gegenteils. Der Herr, der sich mittels des Knechts als des allgemeine Lebensmittels den Lebensprozess unterzuordnen trachtete, bleibt selbst als nur durch ein anderes vermitteltes Selbstbewusstsein dem Lebensprozess untergeordnet. So verkehrt sich seine Befriedigung in die Endlichkeit von einem Nicht-Anerkannten anerkannt zu werden. Eine ihr entgegengesetzte Verkehrung geht an der Knechtschaft vor.

"Aber wie die Herrschaft zeigte, daß ihr Wesen das Verkehrte dessen ist, was
sie sein will, so wird wohl auch die Knechtschaft vielmehr in ihrer
Vollbringung zum Gegenteile dessen werden, was sie unmittelbar ist; ..." (S. 134)

Indem der Herr sich im knechtischen Verhalten realisiert und so als unmittelbares Fürsichseiendes endlich bleibt, und der Knecht selbst eine Wahrheit seiner selbst nicht behauptet, kommt es zu keiner neuen Wahrheitsbehauptung in dieser Gestalt. Für uns aber ergibt sich aus dem Verhältnis eine Entwicklung zur Realisierung der Unendlichkeit, die dem universellen Urteil der Gestalt entspricht, worin sich der Knecht den Lebensprozess subsumiert und als die Gattung setzt.

Der Knecht hat im Herrn das Fürsichsein zu seinem Gegenstand und in der Todesangst an ihm selbst, die sein Dasein total erfasst und alle Bestimmtheiten an ihm auflöst. Im Dienst verwirklicht der Knecht die vollständige Auflösung alles unmittelbaren Fürsichseins. So für es selbst ist das knechtsiche Bewusstsein noch nicht Fürsichsein. In der Arbeit aber als "gehemmter Begierde" (S. 125) bildet es die Form als seine bleibende Negativität, in der es sich an sich erkennt. So kehrt es im Anderen an sich in sich selbst zurück.

"Dieses negative Mitte oder das formierende Tun ist zugleich die Einzelnheit
oder das reine Fürsichsein des Bewußtseins, welches nun in der Arbeit außer es
in das Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtsein kommt also
hiedurch zur Anschauung des selbständigen Seins, als seiner selbst." (S. 135)

Das knechtische Selbstbewusstsein bildet zugleich sich selbst so, dass sein Tun als Einzelheit die verschwindende Mitte zwischen ihm als Bewusstseins und der Gegenständlichkeit ausmacht. Indem das knechtische Selbstbewusstsein sich durch diese Mitte realisiert, hebt es zugleich mit der fremden Form, dasjenige Fremde auf, vor dem es gezittert hat, die Gattung, und setzt sich selbst "hinaus" (S. 135) als die Gattung. Der Knecht erweist sich so als das übergreifende Allgemeine gegen die Gattung, die ihm im Tod erscheint. So überwindet das knechtische Selbstbewusstsein die Todesfurcht, indem es sich in dem Resultat seines Tuns wiederfindet.

"Es wird also durch dies Wiederfinden seiner durch sich selbst eigener Sinn,
gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien." (S. 136)

Für uns realisiert sich in der Entwicklung der Knechtschaft, wenn auch nicht für sie selbst, sondern nur an ihr, der "absolute Begiff", das seiner selbst mächtige Tun, das nicht bloß Geschicklichkeit bleibt. Die formierende Bewegung formt nicht nur die Dinge, sondern zugleich das Selbstbewusstsein. In der Knechtschaft zeigt sich an sich die Wahrheit der Gestalt. Aber die Kechtschaft behauptet sich nicht als die Wahrheit, so dass sie zwar das Fürsichsein ist, aber nur für uns als die die Entwicklung Begreifenden. Das partikuläre Urteil des Geistes hat keine Wahrheit, weil die Realisierung der Allgemeinheit, des Herrn an seiner Endlichkeit scheitert, welche darin liegt, dass der Knecht aus der Allgemeinheit ausgeschlossen werden muss. Der Knecht dagegen realisiert zwar die Allgemeinheit, die Einheit von Fürsichsein und Ansichsein. Aber er weiß es nicht und vermag daher nicht zur Wahrheit zu gelangen. Zwar eröffnet er die Entwicklung auf den absoluten Begriff als die Selbstbeherrschung, also die Freiheit, hin. Aber als Knecht verlässt er nicht für sich das unmittelbare Fürsichsein, so dass das Selbstbewusstsein auch in der Knechtschaft nicht seine Befriedigung findet. Das Selbstbewusstsein muss das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft insgesamt negieren, um zu seiner Befriedigung zu gelangen.

Die Erfahrung der Gestalt entspricht der Bewegung des wahrnehmenden Bewusstseins. Der Kampf auf Leben und Tod nimmt das Resultat der Wahrnehmung auf, worin sich zwei Dinge auflösen. Der Kampf auf Leben und Tod wiederholt der Struktur nach die Bewegung der Begierde und ist durch ihre sich als Selbstbewusstsein selbst aufhebende Bewegung vermittelt. Der Herr realisiert das partikuläre Urteil und kommt zu seiner Realisierung als Herr. Aber als Selbstbewusstsein vermag er sich nicht zu befriedigen, weil er einerseits seiner Selbständigkeit keine dingliche Gestalt geben kann, da sie im Genuss verschwindet, andererseits im Knecht aber nur eine unselbständige Anerkennung findet. Der Knecht universalisiert in der formierenden Bewegung das Urteil der Gestalt und hebt damit das partikuläre Urteil des Geistes auf. Damit aber wird in der formierenden Bewegung zugleich das partikulare Urteil des Geistes aufgehoben, wenn auch nur in der Form eines unendlichen Progresses. Denn nicht der Knecht als Knecht macht sich zum freien Selbstbewusstsein, sondern das Selbstbewusstsein befreit sich. Es bedarf allerdings eines Selbstbewusstseins, damit es einen Knecht abgeben kann. Insofern ist der Konflikt, der zur Befreiung führt, in der Knechtschaft selbst angelegt und also notwendig mir ihr verbunden.