Der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach

Aus club dialektik
Version vom 25. Mai 2012, 13:11 Uhr von Stephan (Diskussion | Beiträge) (3. Psychoanalyse im Dienste der Klientinnen und Klienten)

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Der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach
Vortrag für die Interdisziplinäre Studiengesellschaft
von Stephan Siemens


Ziel dieses Aufsatzes ist den ambivalenten Charakter der Psychologie und der Psychoanalyse zu erfassen. Ausgangspunkt ist eine Vorstellungsanalyse des Satzes: „Der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach.“ In ihr wird ein Typ moralischer Rationalität vorgestellt, der die Autonomie des Geistes voraussetzt. Die Psychoanalyse Freuds, auf die der Aufsatz sich in erster Linie bezieht, stellt eine andere Form der Rationalität dar: Durch Selbstkritik des Geistes zielt sie auf Aneignung des Unbewussten, das, obwohl verdrängt, Handlungen bestimmen kann. Das Verstehen und Aneignen des Unbewussten setzt die unmittelbare Gattungskraft der Individuen frei. Unter der Gattungskraft verstehen Philosophen die Fähigkeit eines Lebewesens zur Reproduktion, wie sie in der Selbsterhaltung der Individuen und in der Sexualität, der Erhaltung der Art, zum Ausdruck kommt, die von Freud so genannten „Triebe“. Allerdings bleibt diese Entwicklung durch die Professionalität der Psychologie und Psychoanalyse auf die unmittelbare Gattungskraft beschränkt. Die – durch das Ganze der Erhaltung der Menschheit, die gesellschaftliche Produktion der Lebensmittel im weitesten Sinne , vermittelte – Gattungskraft wird nicht analysiert, sondern als „Realität“ vorausgesetzt. So werden die Ergebnisse der Psychologie und auch der Psychoanalyse in der so genannten „Industrie- und Organisationspsychologie“ nicht nur zur Heilung nutzbar. Im Gegenteil: Die unmittelbare Gattungskraft der Individuen wird bis an die Grenze der Erschöpfung – und darüber hinaus – zur Steigerung der Produktivität und Profitabilität kapitalistischer Unternehmen genutzt. So kann der Satz: „Der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach“ auch als Resultat einer Psychologie erscheinen, die als „Industrie- und Organisationspsychologie“ die Maßstäbe für produktive Arbeit konsequent nach oben zu schrauben hilft. Thema eines daran anschließenden Artikels wäre, wie eine Selbstkritik des Geistes in diesem Falle ausfallen könnte.

1. Vorstellungsanalyse

„Der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach“. Diesen Satz sage ich über mich, wenn ich in einer ganz bestimmten Situation bin. Ich sehe ein und anerkenne, was das Richtige zu tun ist, und ich bemühe mich darum, es zu tun. Aber ich bin nicht dazu in der Lage, dieses als richtig Erkannte zu tun. Ich bin – wie ich auch sagen könnte – mir selbst im Weg. Wenn ich diese Aussage – von jemandem anderen gesagt – verstehe, dann klingt das etwa folgendermaßen:

Der Geist will etwas Bestimmtes, das ich – der ich den Satz höre – nicht kenne. Aber ich erfahre aus dem Satz, dass es das Richtige ist, was er will. Denn der Geist ist nicht unwillig. Weder will er gar nichts, noch will er das Falsche. Auch wenn ich nicht weiß, was der Geist will, weiß ich doch, dass es als das Richtige bestimmt ist. Aber das, was der Geist will, geschieht nicht. Es geschieht etwas Anderes. Das sagt mir der zweite Teil des Satzes. „… und das Fleisch ist schwach.“ Das „Fleisch“ ist schwach gemessen an dem, was das Richtige zu tun wäre. Das „Fleisch“ ist der Aufgabe, die der Geist einsieht und deren Lösung er erkennt und will, nicht gewachsen.

Das Handeln wird vorgestellt als Einheit des Geistes und des Fleisches, wobei das Handeln dann richtig ist, wenn der Geist das Richtige einsieht und will, und das Fleisch als „Instrument“ umsetzt, was der Geist will. Wenn das Richtige nicht geschieht, kann das daran liegen, dass der Geist das Richtige nicht einsieht, oder dass er es zwar einsieht, aber nicht will. Beides ist in unserem Fall nicht gegeben. Es liegt also daran, dass das „Fleisch“ sich nicht nach dem Geist und seiner Einsicht richtet, sondern nach anderen Bedürfnissen, Trieben und Bedingungen. Das „Fleisch“ ist „eigenwillig“, ist nicht in ausreichendem Maße „Instrument“ des Geistes. Denn wäre es das, so hätte es ausgeführt, was der Geist einsieht und beschließt. Das „Fleisch“ handelt aber anders, und daher geschieht etwas Anderes als das, was richtig gewesen wäre und der Geist beschlossen hatte.

Es ist an dieser Stelle für das Verständnis des Satzes ein zweiter – wenn man so will übergeordneter – Geist erforderlich, der in dem Satz sagt: Zwar wird falsch gehandelt, aber das liegt nicht am Geist. Der will das Richtige und sieht ein, was er zu tun hat. Aber das „Fleisch“ ist schwach. Ich brauche diesen zweiten Geist, um einzusehen, dass das „Fleisch“ schwach ist, denn es ist immerhin stärker als der Geist, von dem in dem Satz die Rede ist. Dass das Fleisch schwach ist, bemerke ich nicht daran, dass es sich gegen den Geist, von dem in dem Satz die Rede ist, nicht durchsetzen kann. Im Gegenteil: Es setzt sich durch. So betrachtet ist es stark. Das „Fleisch“ ist zu schwach dafür, das Richtige zu tun. Ich brauche für das Verständnis des Satzes also einen zweiten – übergeordneten – Geist, der dem Geist, von dem im Satz die Rede ist, auf die Schulter klopft und anerkennt: An Dir liegt es nicht, wenn falsch gehandelt wird; es liegt an der Schwäche des „Fleisches“ – das zwar stärker ist als Du, aber doch der Aufgabe nicht gewachsen ist.

Der Geist stellt gewissermaßen die Übereinstimmung zwischen dem übergeordneten Geist, der spricht, und dem Geist, von dem im Satz die Rede ist, dadurch her, dass er dem „Fleisch“ die Verantwortung dafür auflastet, dass falsch gehandelt wird. Dieses Verfahren der Herstellung der Übereinstimmung des Geistes mit sich selbst setzt aber voraus, dass der Geist eingesehen hat, was für die Bestimmung seines Willens richtig war. Es ist daher notwendig weder für den Außenstehenden noch für den Geist selbst verständlich, dass und was der Geist in seiner Willensbestimmung anders machen kann, damit seinem Willen entsprechend gehandelt wird. Es ist notwendig uneinsichtig und unverständlich, dass und warum das „Fleisch“ zu schwach ist. Denn könnte man es einsehen, dann hätte der Geist sich anders bestimmen müssen, etwas anderes wollen müssen. Dadurch rechtfertigt sich erst der Ausdruck „Fleisch“, dass die Bestimmungen, denen es folgt, für den Geist unverständlich und unbegreiflich sind. Auf diese Weise versöhnt sich der übergeordnete – der sprechende – Geist mit dem Geist, von dem die Rede ist, indem dem „Fleisch“ die Schuld dafür aufgedrückt wird, dass – unbegreiflicher Weise – falsch gehandelt wird. Falsches Handeln liegt nicht am Geist, auch nicht am – beschränkten – Geist dieses Individuums, es liegt am „Fleisch“. Der Geist verschafft sich auf diese Weise seine Identität mit sich teils auf Kosten der Begreiflichkeit dessen, was das „Fleisch“ bewegt, teils auf Kosten seiner eigenen Durchsetzungsfähigkeit im Handeln. Das eigentliche Problem ist nicht, dass der Geist sich im Handeln nicht durchsetzen kann. Das eigentliche Problem besteht in der Gefahr, dass der Geist mit sich selbst uneins wird. Das aber wird vermieden: Der Geist stimmt mit sich selbst überein, indem das „Fleisch“ schwach ist.

Diese Übereinstimmung ist jedoch bedingt. Denn sie beruht darauf, dass der Geist, von dem in dem Satz die Rede ist, das Richtige will. Das Kriterium für das Richtige liegt in dem Geist, der beurteilt, im übergeordneten oder sprechenden Geist, und nicht in dem Geist, von dem in dem Satz die Rede ist. Die Identität kann daher nur vom übergeordneten Geist her festgestellt werden. Der entscheidet darüber, was richtig ist, und ob er dem Geist, von dem die Rede ist, auf die Schulter klopfen will, weil er das Richtige gewollt hat. Der Geist, von dem die Rede ist, ist daher nicht autonom, weder gegenüber dem „Fleisch“, gegen das er sich nicht durchsetzen kann; noch viel weniger ist er autonom gegenüber dem beurteilenden Geist, dem allein es obliegt, festzustellen, ob der Geist, von dem die Rede ist, das Richtige gewollt hat. Denn am Handeln kann man es nicht feststellen. Das ist ja falsch. Der Geist, von dem die Rede ist, zeigt das in der Zerknirschung, mit der er zugibt, dass das Handeln falsch war. Damit verzichtet er auf den Versuch, sein Handeln zu verteidigen, ihm eine – vielleicht beschränkte – Verständlichkeit zuzubilligen. Er ordnet sich dem übergeordneten Geist und seinen Kriterien unter.

Der Geist ist – sofern er autonom ist – nur autonom in der übergeordneten Funktion, sowohl gegen den Geist, von dem die Rede ist, als auch gegenüber dem unbegreiflichen „Fleisch“, mit dem sich der übergeordnete Geist nicht auseinandersetzen muss, weil er dafür den Geist hat, von dem die Rede ist. Für den übergeordneten Geist ist es daher kein Problem, wenn sich das Richtige im Handeln nicht durchsetzt; denn er ist als autonom vorausgesetzt. Er ist in der Beurteilung der Richtigkeit des Wollens in keiner Weise abhängig, weil er immer in der Lage ist, das Falsche dem „Fleisch“ die Verantwortung zu übertragen?. Der übergeordnete Geist stellt seine „Autonomie“, seine „Selbstgesetzlichkeit“ und Freiheit dadurch her, dass er darauf verzichtet, das Handeln in Wirklichkeit erstens zu begreifen oder als begreiflich vorauszusetzen, und zweitens das Handeln zu bestimmen. Der übergeordnete Geist beschränkt sich darauf, die Willensbestimmung als richtig oder falsch zu beurteilen, etwa nach dem Motto: Es gibt nichts Gutes außer einen guten Willen.

Der Geist unterscheidet sich in sich in einen Geist, der es mit einem unbegreiflichen „Fleisch“ zu tun hat, und der infolgedessen um seine Autonomie ringen muss, und einen Geist, der übergeordnet ist, und sich daher die Autonomie selbst zuschreiben kann und zuschreibt, und aus dieser Autonomie heraus entscheidet, ob der Geist willig war, d.h. das Richtige wollte, ob nun das Richtige geschehen ist oder nicht.

Der übergeordnete Geist ist als autonom, selbstgesetzlich oder frei vorausgesetzt. Er muss sich nicht erst befreien; er ist seinem Begriff nach frei. Er braucht daher keine Selbstkritik zu üben und kann es auch nicht. Der übergeordnete Geist ist zum Beispiel nicht der Geist eines Menschen, der sich selbst und sein „Fleisch“, d.h. seinen Leib verstehen will oder es doch versuchen sollte. Er ist nicht ein Geist, der sich als der Geist einer Gesellschaft erfassen will, der das Handeln der „Masse“ verstehen will, sondern er ist ein Geist, der als solcher autonom ist, und aufgrund seiner Autonomie moralisch zu bestimmen versucht, was das Individuum zu tun hat, was dann mitunter (oder vielleicht meist?) an der – notwendig unbegreiflichen – „Schwäche“ des „Fleisches“ scheitert; oder er ist der Geist, der zum Beispiel als „Elite“ den „Massen“ mitteilt, was zu tun das Richtige ist auch dann, wenn die „Massen“ in ihrem – notwendig unbegreiflichen – Unverständnis das Falsche tun. Es ist ein Geist, der sich auf sich bezieht und sich zum Beispiel vornimmt Diskurse zu erfassen, weil das Wirkliche, das „Fleisch“, ohnehin – und mit Notwendigkeit – unbegreiflich ist. Ein solcher Geist ist nicht an der Autonomie der Menschen orientiert, weder an freien Individuen noch an einer – sofern das möglich ist – Gesellschaft freier Menschen, sondern an der Autonomie des Geistes als solcher, an der Autonomie des so genannten „denkenden Subjekts“, der „Elite“ oder des „Diskurses“ etc. (Diesen Unterschied, der sich in den Worten zusammenfassen lässt, dass es der Mensch ist, der denkt, ist von Ludwig Feuerbach Mitte des 19.Jahrhunderts in die Diskussion gebracht und von Karl Marx weiterentwickelt worden. Ludwig Feuerbach 1983, S. 105f; Karl Marx, Friedrich Engels, 1983, S. 20f)

Der Geist hat so seine Autonomie gerettet. Aber der Preis ist die Unbegreiflichkeit des „Fleisches“, also dessen, was in Wirklichkeit geschieht. Der Geist ist autonom, aber impotent; oder ist autonom, aber nur auf seinem eigenen Gebiet. Diesem Gebiet steht ein anderes Gebiet, die Wirklichkeit gegenüber, die durch Unbegreiflichkeiten des „Fleisches“, durch Triebe und Irrationalitäten aller Art bestimmt wird. So erweist es sich, dass ein Geist, der sich so zur Wirklichkeit verhält, in Wirklichkeit selbst schwach ist: Er kann die Wirklichkeit notwendig nicht begreifen. Wer mit einer solchen Impotenz des Geistes nicht zufrieden ist, könnte es – aus freien Stücken – mit einer anderen Vorstellung des Verhältnisses von Geist und „Fleisch“ versuchen.


2. Die andere Rationalität der Psychoanalyse

Eine andere Auffassung des Verhältnisses von Geist und „Fleisch“ könnte so aussehen: Der eigentliche moralische Skandal ist, dass der Geist nicht als der Geist der in einer bestimmten Gesellschaft zusammenlebenden und -wirkenden Menschen angesehen wird, sondern als etwas so genannt „Autonomes“. Denn das Resultat einer solchen Betrachtungsweise erscheint in der Unbegreiflichkeit des „Fleisches“, d. h. dessen, was in Wirklichkeit geschieht. Will ich das Problem der Unbegreiflichkeit der Wirklichkeit vermeiden, muss ich voraussetzen, dass der Geist der Geist der in der Gesellschaft zusammenlebenden Menschen ist. Die vornehmste Aufgabe des Geistes ist es dann, sich selbst zu kritisieren, damit er „das Fleisch“ versteht, anstatt sich auf seine Autonomie zu berufen, die angeblich vorauszusetzen ist. Der Geist der Menschen muss sich seine Autonomie durch Selbstkritik – die notwendig das Moment der inneren Entzweiung enthält, die dann zu überwinden ist – erarbeiten. Der Geist befähigt sich auf diese Weise mehr und mehr, die Bestimmungsgründe des „Fleisches“ zu begreifen und so in etwas zu verwandeln, was in der Willensbestimmung berücksichtigt werden kann. So kann dann in Wirklichkeit moralisch gehandelt werden.

Die Psychoanalyse schlägt zunächst diesen Weg ein. Sie versucht die angebliche „Schwäche“ des „Fleisches“ zu begreifen. Damit verwandelt sie die Bestimmung durch die Triebe, die Leidenschaften und die Eigenheiten der Individuen in verstehbare und begreifliche Bestimmungsgründe erst des Handelns der Menschen und dann auch des Willens der Menschen. Die Psychoanalyse zeigt das Wirken dieser Kräfte in unserem Handeln auf, zum Beispiel indem sie Versprecher, Träume und unbeabsichtigte Handlungen als Ausdruck von uns unbewussten Bestimmungsgründen unserer Seele betrachtet und ernst nimmt. Sie analysiert Witze, Mythen, Kunstwerke und Religionen als Ausdrucksformen dieses Unbewussten. Damit macht sie das Unbewusste dem Bewusstsein zugänglich und erfasst damit – bislang unbegreifliche – Bestimmungsgründe unseres Willens, die wir bisher nicht berücksichtigen konnten, und verwandelt sie in solche, die wir berücksichtigen können. Auf diese Weise stärkt sie nicht das „Fleisch“, sondern den Geist des Menschen, der das „Fleisch“ kennt, erkennt und anerkennt. Der menschliche Geist befähigt sich, die wirklichen Bestimmungsgründe des Handelns in seine Entscheidungen einzubeziehen. Damit wird der menschliche Geist stärker, weil er das „Fleisch“ und des Fleisches angebliche „Schwächen“ versteht. Die wirklichen Bestimmungsgründe unseres Willens werden von der Psychotherapie erobert und damit in der Willensbestimmung durch den Geist zugänglich und so mittelbar vom menschlichen Geist bestimmt. Auf diese Weise wird das Handeln durch eine wirkliche Rationalität durchdrungen. Die Psychotherapie – und hier insbesondere die Psychoanalyse – kann insofern als ein Versuch angesehen werden, das Unbegreifliche des menschlichen Verhaltens zu begreifen und mit der Vernunft zu durchdringen. Damit wird die angebliche „Schwäche“ des Fleisches als Stärke anerkannt, als Kraft, die immerhin stärker ist als diejenige Kraft, die ein bloß moralisierender und sich als autonom gerierender Geist zu mobilisieren vermag.

Sind diese Stärken des „Fleisches“ durch die Vernunft erkannt und können sie durch die Individuen in den Dienst genommen werden, so sind diese Kräfte enorm. Denn es sind die Kräfte der Gattung „Menschheit“, sofern sie unmittelbar an den Individuen zum Ausdruck kommen. Es handelt sich in erster Linie um die Kräfte der Sexualität, das unmittelbare Verhältnis der Menschen zur Gattung „Menschheit“, das mit der Notwendigkeit der Gattung „Mensch“ sich fortzupflanzen verbunden ist. (Auch wenn man – wie oft behauptet wurde – Sexualität und Fortpflanzung „trennen“ kann, was ich in diesem absoluten Sinne sehr stark bezweifele, so muss man sie eben auch „trennen“, weil sie zusammengehören oder anders formuliert, weil sie dasselbe sind.) Dabei wird die Fortpflanzung hier nicht als „biologische“, sondern als eine „natürliche“ Seite des Menschseins betrachtet. Der Unterschied lässt sich einfach angeben: Betrachtet man – wie Freud – die Fortpflanzungsfähigkeit als eine biologische Eigenschaft der Menschen, so trennt man sie von der Gesamtheit des menschlichen Individuums ab als eine Eigenschaft einer bestimmten Ebene des Menschseins, die Gegenstand der Wissenschaft Biologie ist. Davon wird dann oft die so genannten „Subjektivität“ unterschieden, die als das eigentliche Menschsein aufgefasst wird, das in einem fremden – idealistisch gedachten – Verhältnis zur Fähigkeit der Fortpflanzung steht. Die „Subjektivität“ wird dann als vom Geschlecht und der Sexualität unabhängig vorgestellt. Nimmt man die Sexualität bzw. die Fortpflanzungsfähigkeit als eine natürliche Eigenschaft der Menschen, dann versteht man sie als den ganzen Menschen bestimmend, seinen Körper oder Leib, seine Seele und seinen Geist, wenn man das so unterscheiden will. Man betrachtet dann die so genannte „Subjektivität“ als eine Abstraktion des Aspekts des Tätigen – oft als des Ideellen verstanden – von der natürlichen Bestimmtheit der Menschen. Die Menschen selbst sind Individuen, die sowohl unter dem Gesichtspunkt der Objektivität wie der Subjektivität betrachtet werden können, aber unter keinem der beiden Aspekte als Ganze erfasst werden können.

Die Fähigkeit der menschlichen Individuen, sich zu erhalten und andere Individuen der Gattung Mensch zu zeugen, kommt in den Trieben – den Sexual- wie den Ichtrieben – unmittelbar zum Ausdruck. Dieser Unmittelbarkeit wegen ist das Individuum nicht in der Lage, diese seine Kräfte zu beherrschen und zu kontrollieren. Die Individuen scheinen daher im Sexualtrieb ihrer eigenen Fortpflanzungsfähigkeit – und damit der Gattung „Menschheit“ – unterworfen zu sein, obwohl die Fortpflanzungsfähigkeit in Wirklichkeit eine Fähigkeit der Individuen selbst ist und bleibt. Denn eine Gattung als solche gibt es in Wirklichkeit nicht. In der Psychoanalyse wird diese Unkontrolliertheit und Unbeherrschtheit der Fortpflanzungsfähigkeit der Menschen in der Bestimmtheit durch die Sexualität anerkannt, konkret analysiert und dadurch zugleich umkehrbar in ihr Gegenteil: Wir Menschen können mehr und mehr lernen, mit unserer Bestimmtheit durch die Sexualität umzugehen und sie zu einer Kraft im Dienste unserer persönlichen Entwicklung zu machen. Die Psychoanalyse erlaubt es also, aus dieser angeblichen „Schwäche“ des Fleisches eine Stärke des Geistes zu machen, wenn der Geist sich nicht als autonom von den Menschen versteht, deren Geist er ist.

Die Sexualität als eine uns unmittelbar einwohnende Gattungskraft der Menschheit bestimmt uns – das hat Freud erforscht – von den ersten Kindesjahren an. Wir machen uns das Ausmaß dieser Bestimmtheit durch die Sexualität nicht bewusst, um besser leben zu können – auch um uns als „frei“ vorzustellen, wo wir es so nicht sind. Die Sexualität und die mit ihr einhergehenden – je nach Gesellschaft unterschiedlich strukturierten – Familienbeziehungen bestimmen uns in einem Ausmaß, das es als unmöglich erscheinen lässt, sich dadurch von ihnen zu befreien, dass man die Sexualität verdrängt oder sich ihr entzieht. Wir Menschen müssen uns in der Sexualität befreien, in der Bearbeitung und Kultivierung der mit der Sexualität verbundenen Triebe und der mit der Fortpflanzung verbundenen Beziehungen zu anderen Menschen, weil sie unser Leben im weiteren Verlauf – mit oder gegen unseren Willen – bestimmen. Frei sein können wir nur, wenn wir diese Bestimmungen in unsere Willensbestimmung einzubeziehen und sie zu berücksichtigen in der Lage sind. Denn das Erleben der uns nahen Familienbeziehungen in unserer frühen Kindheit bestimmt unsere weitere Wahrnehmung anderer Menschen und unserer Beziehungen zu ihnen ein Leben lang. (Beziehungen wie Mutter oder Vater, Tochter oder Sohn, Bruder und Schwester, Tante und Onkel, Vettern und Basen, Neffen und Nichten usw. usf., das sind mit der Sexualität gegebene oder Familienbeziehungen. Sie sind gesellschaftlich modifizierte, natürliche und sexuell bestimmte Beziehungen, wenn man Sexualität nicht ziemlich willkürlich auf bestimmte – hoffentlich erotische – Praktiken einschränkt, sondern sie als Ausdruck der Fähigkeit der Individuen fasst, die Gattung „Menschheit“ fortzupflanzen, die auch in ihr entsprechenden gesellschaftliche Formen zum Ausdruck kommt.)

Es ist eine eigenartige Vorstellung Freuds, dass sich die Gattung der „Libido“ der Individuen bediene, um sich fortzupflanzen. Denn entweder wird die Gattung als unabhängig von den Individuen gedacht. Dann ist die Fortpflanzungsfähigkeit der Gattung den Individuen vorausgesetzt. Denn die Individuen verdanken in diesem Fall der Gattung ihre Existenz. Dann ist die Libido nichts anderes als die in den Individuen wirksame Gattung „Mensch“. Oder das Individuum wird vorausgesetzt und die Gattung als ein Moment des individuellen Lebens der Individuen, als ein Verhältnis ihrer zu sich selbst und zwischen ihnen gedacht. Dann wird dieses Verhältnis als die Libido entwickelt. Sie bezieht sich zunächst auf die ungeteilte Einheit von Individuum und Gattungsfähigkeit im Individuum, um erst dann – mit der Fortpflanzungsfähigkeit – den Unterschied zwischen Individuum und Gattung im Individuum als eine Form der Individualisierung hervorzubringen. Dann ist die Libido die Gattungseigenschaft der Individuen, die sich zunächst auf die Individuen selbst beschränkt und sich dann erst als die Fortpflanzungsfähigkeit der Individuen zeigt. Dem Individuum bleibt zunächst Zeit zur Entfaltung seiner individuellen – sich auf die Reproduktion seiner selbst beziehende – Gattungskraft, bevor es dann mit Fortpflanzungsfähigkeit, der Sexualität, konfrontiert ist. Die Ich-Triebe und die Sexual-Trieben sind nur Modifikationen des Verhältnisses der Individuen zu ihrer Gattungsfähigkeit, deren Unbeherrschtheit als Trieb vorgestellt wird. Beiden geht offenbar der Narzissmus voraus, als dem – wenn man so will – ersten Ur-Trieb, der Libido selbst, die die Darstellung der Gattungskraft der „Menschheit“ in den Individuen ist. Sie ist die erste unmittelbare Form, in der die Individuen ihre Fähigkeit zum Ausdruck bringen, sich selbst als Gattungswesen und die Gattung Menschheit unmittelbar und auf natürliche Weise zu reproduzieren. (Sigmund Freud 1994, S. 79 – 102)

Diese Bestimmung durch die eigene unbeherrschte Fähigkeit, die Menschheit fortzupflanzen, macht manche Aspekte der therapeutischen Arbeit des Psychoanalytikers und der Psychoanalytikerin überhaupt erst möglich. Denn die Profession des Psychoanalytikers und der Psychoanalytikerin besteht unter anderem darin, z.B. durch Übertragung und Gegenübertragung die Bestimmtheit des Patienten oder der Patientin durch seine oder ihre Familie in nahen und vertrauten Beziehungen zu erfassen und so dem Klienten oder der Klientin ihre Bearbeitung zu ermöglichen. Dabei werden unter anderem solche traumatische Erlebnisse, die verdrängt werden mussten, bewusst gemacht. So werden Probleme sichtbar wie der so genannte „Wiederholungszwang“, in dem frühkindlich unverarbeitete und unaufgelöste Konflikte nach einer späteren Auflösung im Erwachsenenleben streben, die aber unmittelbar nicht mehr möglich ist. Lediglich eine Reflexion auf die Bestimmungsgründe dieses „Wiederholungszwangs“ als eines spontanen – wenn auch ungeeigneten – Heilungsversuchs und die ihm zugrunde liegenden Verletzungen oder Entwicklungsstörungen macht es möglich, mit den Einschränkungen anders umzugehen, als ihn durch unmittelbare „Wiederholung“ des Konflikts einer unmittelbaren Heilung zuführen zu wollen. So liegt zum Beispiel in diesem Falle eine Befreiung von zwanghaftem Verhalten durch die Psychoanalyse vor, deren Qualität als Befreiung man als verständlich voraussetzen kann.

3. Psychoanalyse im Dienste der Klientinnen und Klienten

In der Psychoanalytischen Praxis wird durch die Bezahlung sichergestellt, dass das Ziel der psychoanalytischen Behandlung die Heilung des Patienten ist. Der hippokratische Eid der Mediziner und Medizinerinnen stellt eine zweite Sicherung der patientenorientierten Verhaltensweise des Therapeuten oder der Therapeutin dar. Nur auf eine solche – äußerliche – Weise kann sichergestellt werden, dass der Psychoanalytiker oder die Psychoanalytikerin nicht auch ganz andere Ziele verfolgt, die mit der Heilung des Klienten oder der Klientin gar nichts zu tun haben, ja sie vielleicht sogar ausschließen. Durch die Zahlung wird an die Klienten und die Klientinnen der Anspruch gestellt, zu beurteilen, ob die Psychoanalyse zu ihrer Heilung beiträgt, und ob dieser Beitrag die Höhe der Zahlung rechtfertigt. Der Klient oder die Klientin ist also zugleich Kunde und Auftraggeber des Psychoanalytikers oder der Psychoanalytikerin. Sie stehen in einer Geschäftsbeziehung, in einem Verhältnis des mit Geldzahlung verbundenen Warentauschs.

Je geheilter der Klient oder die Klientin ist, desto mehr tritt diese Seite der Beziehung in den Vordergrund, desto mehr erhebt sich also die Frage, ob die Fortsetzung der Analyse den zu zahlenden Betrag noch wert ist, ob und inwieweit sie also zur weiteren Heilung beiträgt. Ist schließlich die Heilung und die Befreiung von Leidensdruck– soweit sie im Bereich der Psychoanalyse erfolgen kann – erreicht, so bleibt nur noch das Verhältnis der Zahlung eines Psychoanalytikers oder einer Psychoanalytikerin übrig. Der Klient oder die Klientin und der Psychoanalytiker oder die Psychoanalytikerin müssen nun die Größe aufbringen, ihre therapeutische Beziehung – die schließlich eine enge emotionale Bindung beinhaltet – zu beenden. Denn dies ist das Maß der Heilung: Eine normale Kundenbeziehung, eine – wenn man so will – ganz gewöhnliche Dienstleistungsbeziehung zu einem anderen Menschen, insofern die Übertragungen erfolgreich aufgearbeitet werden konnten, und der Klient in der Analyse quasi ein zweites Mal auf einer reiferen Ebene erwachsen werden konnte.

Dieses Ziel birgt zwei Probleme in sich. Das erste Problem ist – so denke ich – leicht einzusehen: Die Psychoanalytiker müssen in der Lage sein, die Gegenübertragungen als solche zu verstehen und sie dafür einzusetzen, die Übertragungen als solche zu erkennen. Dazu müssen sie von der bestehenden Beziehung, der zugrunde liegenden Geschäftsbeziehung als solcher, unterschieden werden können. Denn sie müssen Übertragungen von anderen Beziehungen in diese Beziehung hinein sein und als solche erkannt werden können. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Maßstab der in der Psychoanalyse erreichbaren Heilung. Dieser Maßstab ist offenbar das Verhältnis der einander als selbständig gegenübertretenden Privatpersonen, die in einem Vertragsverhältnis stehen, die ein – wie man auch sagt – „Arbeitsbündnis“ eingehen. Als normale Geschäftsbeziehung betrachtet ist es ein Verhältnis privater selbständiger Warenproduzenten, nach Marx ein mit Geld verbundener Warentausch, hier eine Dienstleistung. Davon ist die eine Person als Klient oder Klientin diejenige, die etwas kauft. Die andere Person ist als der Psychoanalytiker und die Psychoanalytikerin dadurch bestimmt, dass sie etwas verkauft, nämlich die Nutzung seiner oder ihrer beruflichen Qualifikation in einer gegebenen Zeit. Der Psychoanalytiker oder Psychoanalytikerin lebt davon, dass es psychisch kranke Menschen gibt. Der Berufsstand setzt sich dadurch immer wieder der Kritik aus, Klienten und Klientinnen abhängig zu machen, oder gesellschaftliche Probleme zu erfinden und in der gesellschaftlichen Diskussion durchzusetzen, die es gar nicht gäbe, wenn es die entsprechenden Heilmethoden nicht gäbe.

Auch wenn diese Kritik im Allgemeinen weit hergeholt ist, so verbirgt sich dahinter eine –ernste Fragestellung: Wenn die als die „Realität“ vorausgesetzte Beziehung des Warenaustauschs den Maßstab für die Gesundheit des Patienten abgibt, dann fragt sich: Wie „gesund“ ist eigentlich die Beziehung zweier Menschen, die in einem Verhältnis des Warentausches begriffen sind, wie sie zwischen Analytiker oder Analytikerin und Klient oder Klientin jedenfalls besteht? Können solche Beziehungen nicht auch mit seelischen Krankheiten verbunden sein? Diese Krankheiten könnten dann in der Psychotherapie nicht nur nicht behandelt werden. Sie könnten sogar im Gegenteil mit den Mitteln der Psychologie womöglich gefördert werden. Denn im Unterschied zu familiären und sexuellen, unmittelbaren gesellschaftlichen Beziehungen sind gesellschaftliche Beziehungen, die über Warentausch organisiert sind, nach Karl Marx – über die Arbeitsteilung und damit über das Ganze der Gesellschaft – vermittelte Beziehungen. Diese vermittelten gesellschaftlichen Beziehungen können individuell und professionell unmöglich behandelt werden. In der Psychotherapie aber werden sie zum Maßstab der Heilung gemacht. Geheilt ist der Patient oder Patientin dann, wenn eine normale Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer vorliegt. Dieses Problem ist mit der Professionalisierung der psychoanalytischen heilenden Tätigkeit notwendig verbunden.

Aber nicht nur das: Freud verzichtet auch auf die Begreiflichkeit und Verständlichkeit dieser gesellschaftlichen Beziehungen, die vielmehr als die so genannte „Realität“ unbegriffen und unbesehen hingenommen werden. Die Fähigkeit, sich dieser „Realität“ zu stellen, sich ihr anzupassen, ist Bedingung der psychischen Gesundheit und des psychischen Wachstums. Dabei bleibt diese Realität aber unbegriffen und unbestimmt. Der Versuch des Geistes, das „Fleisch“ zu verstehen und zu begreifen, beschränkt sich in der Psychoanalyse also auf die unmittelbare Form der – von den Individuen selbst nicht unmittelbar zu kontrollierenden Fähigkeiten der Individuen, die Gattung „Menschheit“ zu reproduzieren, wie sie in der Sexualität zum Ausdruck kommt. (Die notwendige Rückseite der Fähigkeit zur Fortpflanzung der Individuen ist der Tod der Individuen, worin sich die Fähigkeit der Individuen, die Gattung „Menschheit“ zu reproduzieren, ebenfalls unmittelbar darstellt, so dass der „Todestrieb“ und der „Eros“ dasselbe Verhältnis – das Verhältnis von Individuum und Gattung - von zwei Seiten aus betrachtet sind.) Dies ist notwendig so, weil die Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker selbst einer Profession nachgehen. Daher muss auf eine äußerliche Weise sichergestellt werden, dass sie dem Wohle des zu heilenden Menschen dient.