Der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach
Ziel dieses Aufsatzes ist den ambivalenten Charakter der Psychologie und der Psychoanalyse zu erfassen. Ausgangspunkt ist eine Vorstellungsanalyse des Satzes: „Der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach.“ In ihr wird ein Typ moralischer Rationalität vorgestellt, der die Autonomie des Geistes voraussetzt. Die Psychoanalyse Freuds, auf die der Aufsatz sich in erster Linie bezieht, stellt eine andere Form der Rationalität dar: Durch Selbstkritik des Geistes zielt sie auf Aneignung des Unbewussten, das, obwohl verdrängt, Handlungen bestimmen kann. Das Verstehen und Aneignen des Unbewussten setzt die unmittelbare Gattungskraft der Individuen frei. Unter der Gattungskraft verstehen Philosophen die Fähigkeit eines Lebewesens zur Reproduktion, wie sie in der Selbsterhaltung der Individuen und in der Sexualität, der Erhaltung der Art, zum Ausdruck kommt, die von Freud so genannten „Triebe“. Allerdings bleibt diese Entwicklung durch die Professionalität der Psychologie und Psychoanalyse auf die unmittelbare Gattungskraft beschränkt. Die – durch das Ganze der Erhaltung der Menschheit, die gesellschaftliche Produktion der Lebensmittel im weitesten Sinne , vermittelte – Gattungskraft wird nicht analysiert, sondern als „Realität“ vorausgesetzt. So werden die Ergebnisse der Psychologie und auch der Psychoanalyse in der so genannten „Industrie- und Organisationspsychologie“ nicht nur zur Heilung nutzbar. Im Gegenteil: Die unmittelbare Gattungskraft der Individuen wird bis an die Grenze der Erschöpfung – und darüber hinaus – zur Steigerung der Produktivität und Profitabilität kapitalistischer Unternehmen genutzt. So kann der Satz: „Der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach“ auch als Resultat einer Psychologie erscheinen, die als „Industrie- und Organisationspsychologie“ die Maßstäbe für produktive Arbeit konsequent nach oben zu schrauben hilft. Thema eines daran anschließenden Artikels wäre, wie eine Selbstkritik des Geistes in diesem Falle ausfallen könnte.
1. Vorstellungsanalyse
„Der Geist ist willig und das Fleisch ist schwach“. Diesen Satz sage ich über mich, wenn ich in einer ganz bestimmten Situation bin. Ich sehe ein und anerkenne, was das Richtige zu tun ist, und ich bemühe mich darum, es zu tun. Aber ich bin nicht dazu in der Lage, dieses als richtig Erkannte zu tun. Ich bin – wie ich auch sagen könnte – mir selbst im Weg. Wenn ich diese Aussage – von jemandem anderen gesagt – verstehe, dann klingt das etwa folgendermaßen:
Der Geist will etwas Bestimmtes, das ich – der ich den Satz höre – nicht kenne. Aber ich erfahre aus dem Satz, dass es das Richtige ist, was er will. Denn der Geist ist nicht unwillig. Weder will er gar nichts, noch will er das Falsche. Auch wenn ich nicht weiß, was der Geist will, weiß ich doch, dass es als das Richtige bestimmt ist. Aber das, was der Geist will, geschieht nicht. Es geschieht etwas Anderes. Das sagt mir der zweite Teil des Satzes. „… und das Fleisch ist schwach.“ Das „Fleisch“ ist schwach gemessen an dem, was das Richtige zu tun wäre. Das „Fleisch“ ist der Aufgabe, die der Geist einsieht und deren Lösung er erkennt und will, nicht gewachsen.
Das Handeln wird vorgestellt als Einheit des Geistes und des Fleisches, wobei das Handeln dann richtig ist, wenn der Geist das Richtige einsieht und will, und das Fleisch als „Instrument“ umsetzt, was der Geist will. Wenn das Richtige nicht geschieht, kann das daran liegen, dass der Geist das Richtige nicht einsieht, oder dass er es zwar einsieht, aber nicht will. Beides ist in unserem Fall nicht gegeben. Es liegt also daran, dass das „Fleisch“ sich nicht nach dem Geist und seiner Einsicht richtet, sondern nach anderen Bedürfnissen, Trieben und Bedingungen. Das „Fleisch“ ist „eigenwillig“, ist nicht in ausreichendem Maße „Instrument“ des Geistes. Denn wäre es das, so hätte es ausgeführt, was der Geist einsieht und beschließt. Das „Fleisch“ handelt aber anders, und daher geschieht etwas Anderes als das, was richtig gewesen wäre und der Geist beschlossen hatte.
Es ist an dieser Stelle für das Verständnis des Satzes ein zweiter – wenn man so will übergeordneter – Geist erforderlich, der in dem Satz sagt: Zwar wird falsch gehandelt, aber das liegt nicht am Geist. Der will das Richtige und sieht ein, was er zu tun hat. Aber das „Fleisch“ ist schwach. Ich brauche diesen zweiten Geist, um einzusehen, dass das „Fleisch“ schwach ist, denn es ist immerhin stärker als der Geist, von dem in dem Satz die Rede ist. Dass das Fleisch schwach ist, bemerke ich nicht daran, dass es sich gegen den Geist, von dem in dem Satz die Rede ist, nicht durchsetzen kann. Im Gegenteil: Es setzt sich durch. So betrachtet ist es stark. Das „Fleisch“ ist zu schwach dafür, das Richtige zu tun. Ich brauche für das Verständnis des Satzes also einen zweiten – übergeordneten – Geist, der dem Geist, von dem im Satz die Rede ist, auf die Schulter klopft und anerkennt: An Dir liegt es nicht, wenn falsch gehandelt wird; es liegt an der Schwäche des „Fleisches“ – das zwar stärker ist als Du, aber doch der Aufgabe nicht gewachsen ist.
Der Geist stellt gewissermaßen die Übereinstimmung zwischen dem übergeordneten Geist, der spricht, und dem Geist, von dem im Satz die Rede ist, dadurch her, dass er dem „Fleisch“ die Verantwortung dafür auflastet, dass falsch gehandelt wird. Dieses Verfahren der Herstellung der Übereinstimmung des Geistes mit sich selbst setzt aber voraus, dass der Geist eingesehen hat, was für die Bestimmung seines Willens richtig war. Es ist daher notwendig weder für den Außenstehenden noch für den Geist selbst verständlich, dass und was der Geist in seiner Willensbestimmung anders machen kann, damit seinem Willen entsprechend gehandelt wird. Es ist notwendig uneinsichtig und unverständlich, dass und warum das „Fleisch“ zu schwach ist. Denn könnte man es einsehen, dann hätte der Geist sich anders bestimmen müssen, etwas anderes wollen müssen. Dadurch rechtfertigt sich erst der Ausdruck „Fleisch“, dass die Bestimmungen, denen es folgt, für den Geist unverständlich und unbegreiflich sind. Auf diese Weise versöhnt sich der übergeordnete – der sprechende – Geist mit dem Geist, von dem die Rede ist, indem dem „Fleisch“ die Schuld dafür aufgedrückt wird, dass – unbegreiflicher Weise – falsch gehandelt wird. Falsches Handeln liegt nicht am Geist, auch nicht am – beschränkten – Geist dieses Individuums, es liegt am „Fleisch“. Der Geist verschafft sich auf diese Weise seine Identität mit sich teils auf Kosten der Begreiflichkeit dessen, was das „Fleisch“ bewegt, teils auf Kosten seiner eigenen Durchsetzungsfähigkeit im Handeln. Das eigentliche Problem ist nicht, dass der Geist sich im Handeln nicht durchsetzen kann. Das eigentliche Problem besteht in der Gefahr, dass der Geist mit sich selbst uneins wird. Das aber wird vermieden: Der Geist stimmt mit sich selbst überein, indem das „Fleisch“ schwach ist.
Diese Übereinstimmung ist jedoch bedingt. Denn sie beruht darauf, dass der Geist, von dem in dem Satz die Rede ist, das Richtige will. Das Kriterium für das Richtige liegt in dem Geist, der beurteilt, im übergeordneten oder sprechenden Geist, und nicht in dem Geist, von dem in dem Satz die Rede ist. Die Identität kann daher nur vom übergeordneten Geist her festgestellt werden. Der entscheidet darüber, was richtig ist, und ob er dem Geist, von dem die Rede ist, auf die Schulter klopfen will, weil er das Richtige gewollt hat. Der Geist, von dem die Rede ist, ist daher nicht autonom, weder gegenüber dem „Fleisch“, gegen das er sich nicht durchsetzen kann; noch viel weniger ist er autonom gegenüber dem beurteilenden Geist, dem allein es obliegt, festzustellen, ob der Geist, von dem die Rede ist, das Richtige gewollt hat. Denn am Handeln kann man es nicht feststellen. Das ist ja falsch. Der Geist, von dem die Rede ist, zeigt das in der Zerknirschung, mit der er zugibt, dass das Handeln falsch war. Damit verzichtet er auf den Versuch, sein Handeln zu verteidigen, ihm eine – vielleicht beschränkte – Verständlichkeit zuzubilligen. Er ordnet sich dem übergeordneten Geist und seinen Kriterien unter.
Der Geist ist – sofern er autonom ist – nur autonom in der übergeordneten Funktion, sowohl gegen den Geist, von dem die Rede ist, als auch gegenüber dem unbegreiflichen „Fleisch“, mit dem sich der übergeordnete Geist nicht auseinandersetzen muss, weil er dafür den Geist hat, von dem die Rede ist. Für den übergeordneten Geist ist es daher kein Problem, wenn sich das Richtige im Handeln nicht durchsetzt; denn er ist als autonom vorausgesetzt. Er ist in der Beurteilung der Richtigkeit des Wollens in keiner Weise abhängig, weil er immer in der Lage ist, das Falsche dem „Fleisch“ die Verantwortung zu übertragen?. Der übergeordnete Geist stellt seine „Autonomie“, seine „Selbstgesetzlichkeit“ und Freiheit dadurch her, dass er darauf verzichtet, das Handeln in Wirklichkeit erstens zu begreifen oder als begreiflich vorauszusetzen, und zweitens das Handeln zu bestimmen. Der übergeordnete Geist beschränkt sich darauf, die Willensbestimmung als richtig oder falsch zu beurteilen, etwa nach dem Motto: Es gibt nichts Gutes außer einen guten Willen.
Der Geist unterscheidet sich in sich in einen Geist, der es mit einem unbegreiflichen „Fleisch“ zu tun hat, und der infolgedessen um seine Autonomie ringen muss, und einen Geist, der übergeordnet ist, und sich daher die Autonomie selbst zuschreiben kann und zuschreibt, und aus dieser Autonomie heraus entscheidet, ob der Geist willig war, d.h. das Richtige wollte, ob nun das Richtige geschehen ist oder nicht.
Der übergeordnete Geist ist als autonom, selbstgesetzlich oder frei vorausgesetzt. Er muss sich nicht erst befreien; er ist seinem Begriff nach frei. Er braucht daher keine Selbstkritik zu üben und kann es auch nicht. Der übergeordnete Geist ist zum Beispiel nicht der Geist eines Menschen, der sich selbst und sein „Fleisch“, d.h. seinen Leib verstehen will oder es doch versuchen sollte. Er ist nicht ein Geist, der sich als der Geist einer Gesellschaft erfassen will, der das Handeln der „Masse“ verstehen will, sondern er ist ein Geist, der als solcher autonom ist, und aufgrund seiner Autonomie moralisch zu bestimmen versucht, was das Individuum zu tun hat, was dann mitunter (oder vielleicht meist?) an der – notwendig unbegreiflichen – „Schwäche“ des „Fleisches“ scheitert; oder er ist der Geist, der zum Beispiel als „Elite“ den „Massen“ mitteilt, was zu tun das Richtige ist auch dann, wenn die „Massen“ in ihrem – notwendig unbegreiflichen – Unverständnis das Falsche tun. Es ist ein Geist, der sich auf sich bezieht und sich zum Beispiel vornimmt Diskurse zu erfassen, weil das Wirkliche, das „Fleisch“, ohnehin – und mit Notwendigkeit – unbegreiflich ist. Ein solcher Geist ist nicht an der Autonomie der Menschen orientiert, weder an freien Individuen noch an einer – sofern das möglich ist – Gesellschaft freier Menschen, sondern an der Autonomie des Geistes als solcher, an der Autonomie des so genannten „denkenden Subjekts“, der „Elite“ oder des „Diskurses“ etc. (Diesen Unterschied, der sich in den Worten zusammenfassen lässt, dass es der Mensch ist, der denkt, ist von Ludwig Feuerbach Mitte des 19.Jahrhunderts in die Diskussion gebracht und von Karl Marx weiterentwickelt worden. Ludwig Feuerbach 1983, S. 105f; Karl Marx, Friedrich Engels, 1983, S. 20f)
Der Geist hat so seine Autonomie gerettet. Aber der Preis ist die Unbegreiflichkeit des „Fleisches“, also dessen, was in Wirklichkeit geschieht. Der Geist ist autonom, aber impotent; oder ist autonom, aber nur auf seinem eigenen Gebiet. Diesem Gebiet steht ein anderes Gebiet, die Wirklichkeit gegenüber, die durch Unbegreiflichkeiten des „Fleisches“, durch Triebe und Irrationalitäten aller Art bestimmt wird. So erweist es sich, dass ein Geist, der sich so zur Wirklichkeit verhält, in Wirklichkeit selbst schwach ist: Er kann die Wirklichkeit notwendig nicht begreifen. Wer mit einer solchen Impotenz des Geistes nicht zufrieden ist, könnte es – aus freien Stücken – mit einer anderen Vorstellung des Verhältnisses von Geist und „Fleisch“ versuchen.