Texte:Ingo Elbes "Marx"

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Ingo Elbes "Marx"
Mögliche und unmögliche Formen und Inhalte kritischer Gesellschftstheorie
von Stephan Siemens
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Ingo Elbe wirft in prodomo die Frage auf: Was kann kritische Gesellschaftstheorie bedeuten? Wie unterscheidet sie sich von affirmativer Theorie? Dies ist seiner Meinung nach die Kernfrage seiner Auseinandersetzung mit einer Reihe von Autoren, denen er „Mystizismus“ vorwirft. Diese Frage begleitet die Entwicklung der marxistischen Vorstellung von Wissenschaft von Anfang an. Und von Anfang an war diese Frage verbunden mit einer Antwort, in der sich Marx dagegen wehrt, in seinem geistigen Horizont auf die kapitalistische Gesellschaft beschränkt zu werden. Die marxsche Wissenschaft war von Anfang an der theoretische Ausdruck einer politischen Praxis, die über die kapitalistische Gesellschaft hinausgehen sollte und wollte. In diesem Sinne sollte die Frage von Anfang an praktisch beantwortet werden, so zum Beispiel in der 2. These und der 11. These zu Feuerbach, aber auch in der Kritik des Gothaer Programms. Immer spricht sich Marx für die Behauptung aus, dass eine Theorie, die nicht affirmativ sein will, mit einer die Gesellschaftsform überwindenden politischen Praxis verbunden ist. Sonst bleibt eine Theorie affirmativ, nämlich die Anerkennung der gegebenen Gesellschaft mit einer anderen Interpretation.

Marx war – um es anders zu formulieren – der Auffassung, dass das Kriterium der Wahrheit die Praxis ist. Der kritische oder affirmative Charakter einer Theorie zeigt sich daher in der Praxis, mit der sie verbunden ist und die sie zu begründen versucht. Eine bloß theoretische Antwort auf die oben genannte Kernfrage – eine Antwort, die die praktisch politische Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht impliziert oder nicht wenigstens im weitesten Sinne darauf Bezug nimmt, ist – so könnte ein marxistisch „arbeiterbewegungssozialistisches“ Vorurteil lauten – eben deswegen nicht eine kritische, sondern eine affirmative wissenschaftliche Theorie. Trifft dieses Vorurteil auch auf Ingo Elbes Darlegungen zu? Das gilt es zu prüfen. Dafür bieten sich zwei Fragen an:

1. Wie begründet Ingo Elbe die Rationalität seiner Überlegungen?
2. Wie bestimmt Ingo Elbe den Gegenstand der politischen Ökonomie?

Die Antwort auf diese beiden Fragen sollten uns zeigen, ob Ingo Elbe in der Tat den Anspruch festzuhalten in der Lage ist, eine „kritische Wissenschaftstheorie“ zu verfolgen, oder ob er – durch die logischen Schwierigkeiten, in die er gerät – in die Fänge einer traditionellen Theorie zurückfällt.


I. Die theoretische Form der Rationalität bei Elbe

Um die Frage nach der Bedeutung kritischer Gesellschaftstheorie zu beantworten, geht Ingo Elbe zunächst ganz andere Wege. Er fragt sich, welche „Wissenschaftsstandards“ Marx beibehält und welche er verabschiedet. Eine Kritik der anzuwendenden Wissenschaftsstandards wäre also angezeigt, um die oben genannte Kernfrage zu beantworten. Seine eigenen Rationalitätskriterien will Ingo Elbe – wie er findet, aus nachvollziehbaren Gründen – „hier“ nicht begründen. leisten. Er schreibt: „Die Frage einer ‚Begründung’ des Rationalitätsstandards, von dem ich ausgehe, kann hier nicht Thema sein.“ (S, 12) Man mag diese Gründe nachvollziehen. Und doch wirft gerade dieser Satz das Problem auf, dem Ingo Elbe konsequent aus dem Weg gehen will, nämlich das Problem der Begründbarkeit von Rationalitätsstandards. Wollte man die Rationalitätskriterien begründen, so würde man sie in ihrer eigenen Begründung voraussetzen. Denn mit einer Begründung ist doch wohl eine rationale Begründung gemeint. Es hilft nichts, über Theologen zu schimpfen oder einen Mystizismus zu verunglimpfen: Das Problem bleibt. Das weiß auch Ingo Elbe und setzt deswegen eine Fußnote dazu. Diese Fußnote dreht die Begründungslast in einer Weise um, die die Frage der kritischen Gesellschaftstheorie unmittelbar berührt. „Es wäre nicht an mir,“ so schreibt Ingo Elbe, „einen wissenschaftlich etablierten Vernunfttypus zu legitimieren. Begründungen darf man von denen erwarten, die diesen (wissenschaftlich etablierten Vernunfttypus, Stephan Siemens) zugunsten eines bisher nicht explizierten verabschieden oder aufheben wollen.“ (S. 16 Fußnote 11) Ingo Elbe beruft sich also auf den „etablierten Vernunfttypus“, um die Rationalitätsstandards seiner kritischen Gesellschaftstheorie zu legitimieren. Von Kritik keine Spur!

Aber nicht nur das! Die Kritiker haben vor dem etablierten Vernunfttypus stramm zu stehen. Denn um ihren bisher nicht explizierten Vernunftbegriff zu begründen, bedarf es einer Begründung, die den Rationalitätsstandards der etablierten Wissenschaft, mithin der affirmativen Wissenschaft genügt. Ingo Elbe dreht also nicht nur „hier“ aus ihm verständlichen Gründen den Spieß um, sondern er möchte aus der Schwäche seiner eigenen Argumentation ein Argument gegen seine Gegner gewinnen. Das entbehrt nicht einer – wenn auch dialektischen – Logik. Elbe trifft auf das Problem der Begründbarkeit der Rationalitätskriterien. Er stellt – instinktiv – fest, dass die Begründbarkeit dieser Rationalitätsstandards diese selbst voraussetzt. Darauf reagiert er so, dass er „hier“ diese Begründung nicht leisten wolle. Aber dann kommt er auf die Idee, dass er dieses Problem gegen seine Gegner richten könnte. Denn wie er selbst seine Rationalitätsstandards nicht begründen kann, so können es seine Gegner auch nicht. Denn dieser Versuch enthält einen Widerspruch in sich. Also fordert er von ihnen die Begründung, die er selbst „hier“ nicht geben will, aus allerdings – wenn auch in ganz anderem Sinne – verständlichen Gründen. Da die Gegner das nicht können, so scheint Elbe ein Argument gegen sie gewonnen zu haben. Ob das so ist, wird sich noch zeigen.

Zunächst misslingt die Argumentation in sich selbst. Die Begründungsbedürftigkeit der Rationalitätskriterien einerseits, und die Unbegründbarkeit dieser Kriterien, ohne sie selbst vorauszusetzen, andererseits sind die zwei Momente des Widerspruchs, in den eine Rationalität gerät, die das Begründungsverhältnis verabsolutiert und dogmatisiert. (Dieses Problem hat Spinoza in seiner Formulierung der „causa sui“, also der Grund seiner selbst, angedeutet, in der die notwendige Bezogenheit eines Grundes auf ein Anderes – im Widerspruch zum Begriff des Grundes – verneint wird und dadurch das Begründungsverhältnis in ein Selbstverhältnis – hier der Substanz oder Gottes – verkehrt wird.) Anders formuliert: Diese Rationalitätsstandards haben das Irrationale an sich, als Rationalitätskriterien begründungsbedürftig und zugleich der Begründung nicht fähig zu sein, wenn ich sie nicht zugleich voraussetze und also als begründete annehme. Man muss also abwarten, bis der Kritiker diesen Rationalitätskriterien widerspricht und andere Positionen vorträgt, um dann für diese Positionen eine Begründung zu verlangen. Bei dieser Begründung gelten selbstverständlich die eigenen Begründungskriterien oder Rationalitätsstandards. So wird die – aus verständlichen Gründen nicht nur „hier“ gegebene – Unbegründbarkeit von Rationalitätskriterien überhaupt zu einem Argument gegen diejenigen, die sich mit diesem Widerspruch auseinandersetzen wollen und darin einen Beitrag zur Kritik jenes Rationalitätsstandards sehen. (Der Vorwurf des „Mystizismus“ lässt sich gegen Spinoza erheben, und überdies mit seiner Bezugnahme auf Gott rechtfertigen. Aber damit gibt man nur zu verstehen, dass man die logischen Probleme nicht kennt, die Spinoza dazu bewogen haben, diese seine Lösung zu erarbeiten. Man muss sie auch nicht kennen. Das ist nicht notwendig – wenn es für eine „kritische“ Gesellschaftstheorie erlaubt ist, sich auf die „etablierten Rationalitätsstandards“ zu stützen. Über diese Standards hinauszugehen zu einer wirklichen Kritik ist eine Sache der Befreiung, zu der niemand gezwungen werden kann.)

Das lässt sich vielleicht daraus auch erfassen, dass Aristoteles bereits bei der Begründung des Satzes vom Widerspruch (um den es sich letztlich bei den Rationalitätsstandards von Ingo Elbe handelt) schon genauso zu Werke gegangen ist. Aristoteles beginnt seine Darstellung der Begründung des Satzes vom Widerspruch, wie es Ingo Elbe tut, allerdings ohne das „hier“. Er schreibt im 4. Buch im 4. Kapitel seiner „Metaphysik“ folgendes: „Nun gibt es aber wie gesagt einige, welche es für möglich erklären, dass dasselbe sei und nicht sei und dass man dies so annehme.“ Man darf sich hier getrost die „Mystiker“ einsetzen, die Ingo Elbe kritisieren will. Aristoteles fährt nach Beispielen für solche Leute fort: „Wir dagegen haben angenommen, es sei unmöglich, dass etwas zugleich sei und nicht sei, und haben hieraus erwiesen, dass dies das sicherste unter allen Prinzipien ist.“ Aristoteles nennt sich hier „wir“ und behauptet den Satz vom Widerspruch. Und nun kommt Aristoteles auf das Problem der Begründbarkeit der „Rationalitätsstandards“ zu sprechen. „Manche verlangen nun aus Mangel an Bildung, man solle auch dies beweisen; denn Mangel an Bildung ist es, wenn man nicht weiß, wofür ein Beweis zu suchen ist und wofür nicht. Denn dass es überhaupt für alles einen Beweis gebe, ist unmöglich, sonst würde ja ein Fortschritt ins Unendliche eintreten und auch so kein Beweis stattfinden.“ Mit anderen Worten: Ein Beweis, eine direkte Begründung für den Satz vom Widerspruch ist unmöglich, nicht nur „hier“, sondern überhaupt.

Nun beginnt Aristoteles mit dem zweiten Manöver. „Wenn aber für manches kein Beweis gesucht werden darf, so möchten sie wohl nicht angeben können, was sie mit mehr Recht für ein solches Prinzip halten wollten.“ Der Satz vom Widerspruch lässt sich nicht begründen. Also könnte auch ein anderes Prinzip mit demselben Recht gelten. Aber so ist es nicht, sagt Aristoteles, und macht damit den Übergang, den Ingo Elbe mit der Fußnote versucht: „Doch ein widerlegender Beweis für die Behauptung lässt sich führen, sobald der dagegen Streitende nur überhaupt redet; wo aber nicht, so wäre es ja lächerlich, gegen den reden zu wollen, der über nichts Rede steht, gerade insofern er nicht Rede steht; denn ein solcher ist ja einer Pflanze gleich.“ Wenn also der Gegner nicht – wie eine Pflanze – verstummt, sondern sich auf eine Diskussion einlässt, dann – so meint Aristoteles – hat er verloren, und Wissenschaft – so könnte er fortfahren – besteht doch wohl darin, Rede zu stehen. Wenn er aber Rede steht, kann Aristoteles die Beweislast umdrehen. Nach einer Bemerkung über direkten und indirekten Beweis gibt Aristoteles dafür die Gebrauchsanweisung, die Elbe –wohl ohne es zu wissen – verfolgt hat. „Der Ausgangspunkt bei allen derartigen Diskussionen ist nicht, dass man vom Gegner verlangt, er solle erklären, dass etwas sei oder nicht sei (denn dies würde man schon für eine Annahme des zu Beweisenden ansehen), sondern dass er im Reden etwas bezeichne für sich wie für einen anderen; denn das ist ja notwendig, sofern er überhaupt etwas reden will. Wo nicht, so hätte ja ein solcher gar keine Rede, weder zu sich selbst, noch zu einem anderen. Gibt jemand einmal dies zu, so lässt sich ihm auch die Wahrheit des Axioms (also des Satzes vom Widerspruch, Stephan Siemens) erweisen; denn es ist dann schon etwas fest bestimmt. Die Grundlage zum Beweise aber gibt nicht das zu Beweisende, sondern der, welcher Rede steht; denn er steht Rede, ob er doch gleich die Rede aufhebt.“ Eventuell ein Kommentator ergänzt mit Recht: „Und ferner hat der, der dies zugab, zugleich zugegeben, dass etwas wahr sei ohne Beweis, so dass sich also nicht alles zugleich so oder auch nicht so verhalten würde.“

Mit anderen Worten: Die Umkehr der Beweislast ist der Beweis durch Widerlegung, und einen anderen gibt es nicht. Indem man den anderen dazu zwingt, seine Position darzulegen, wie Ingo Elbe das in der Fußnote tun will, begibt man sich in die bessere Ausgangslage zwischen zwei einander entgegen gesetzten, aber gleichermaßen unbegründbaren Positionen. So gesehen hätte Ingo Elbe alles richtig gemacht. Aber das ist ihm leider nicht gelungen. Denn er hat das Verfahren des Aristoteles an einer entscheidenden Stelle modifiziert, indem er ein „hier“ eingeführt hat. Ingo Elbe sagt nämlich, dass er seine Rationalitätskriterien „hier“ nicht darlegen und begründen könne. Das impliziert: Anderswo ist das – in welcher Form auch immer – geschehen, wer auch immer das gemacht haben könnte. Hier reicht es darauf hinzuweisen, dass ein Versuch, in diesem Sinne widerspruchsfrei zu denken, bisher nicht gelungen ist. Diesem Mangel wird in der formalen Logik immer wieder mit Verbotsschildern abgeholfen. Ein ganz berühmtes Verbotsschild ist etwa das Verbot, die Totalität zu denken, dessen Gebotsschild der Verweis auf den „universe of discourse“ oder die Grundmenge ist. Aber woher beziehen diese Verbote ihre Kraft, wenn doch von einem „freien Denken“ ausgegangen werden soll? Sie beziehen ihre Kraft aus derselben Quelle, aus der Ingo Elbe seine angebliche Begründung der „Rationalitätsstandards“ gewinnt, nämlich aus der Etabliertheit des „etablierten Vernunfttypus“, dem man nur mit den Gründen widersprechen darf, die ihm selbst entsprechen, weil – ja weil er der „etablierte Vernunfttypus“ ist, weil er die herrschende Vernunft ist. Das ist – der Form nach – affirmative Wissenschaft, da hilft alles Schimpfen über angebliche Mystiker nichts. Es hat daher etwas Erheiterndes, wenn Ingo Elbe den Marxistinnen und Marxisten die wissenschaftlichen Grundlagen empfiehlt, die ihr eigenes Scheitern immer wieder einräumen müssen, obwohl die „Mystizisten“ doch ein Resultat dieses Scheiterns sein wollen (oder – wie im Falle Spinozas – sind). Der Form nach ist die von Ingo Elbe vorgetragene Rationalität alles andere als kritisch; sie ist in der Art affirmativ, dass sie zugleich die affirmative, die etablierte Vernunft zum Schiedsrichter zwischen ihr selbst und jeder möglichen Kritik an ihr erhebt. Elbe verlässt sich auf die Form der herrschenden Wissenschaft, weil – es sich um die Form der herrschenden Wissenschaft handelt.


II. Der kritische Charakter der Kritik der politischen Ökonomie