Texte:Albträume der Gegenwart
Inhaltsverzeichnis
Albträume der Gegenwart als Wegweiser in die Zukunft
Stephan Siemens
Unter diesem Titel wird hier nach und nach die schriftliche Fassung eines Vortrag erscheinen, den Stephan Siemens bei der Tagung der ISG (Interdisziplinären Studiengesellschaft) zum Thema: "Vom Traum zum Albtraum" am 21 Oktober 2007 in Bad Pyrmont gehalten hat.
1. Fehlt uns die „Utopie“?
Wir leben in einer Zeit, in der uns die Utopien ausgegangen zu sein scheinen. „Utopie“ kann als die Vorstellung einer Lebensweise aufgefasst werden, die wörtlich genommen keinen Ort in dieser Welt hat. ("ou" heißt griechisch „nicht“, „topos“ heißt "Ort". Utopie heißt also wörtlich: "Kein Ort".) Gehe ich von der wörtlichen Bedeutung aus, so könnte ich mit demselben Recht sagen: Wir haben überhaupt nur Utopie! Denn unsere Lebensweise hat offenbar keinen Ort in dieser Welt, das heißt in der Natur. Wir brauchen – so könnte ich fortfahren – vielmehr eine Art „Topie“, die Vorstellung einer Lebensweise, die uns einen Ort in der Welt – und das heißt in der Natur – verschafft, so dass wir in der Natur als unserer Heimat leben können, aber auch leben wollen, also nicht eine ökologische Nische, sondern eine Heimat.
Wenn ich so spreche, dann betrachte ich die Utopie nicht als etwas Positives, Zukünftiges, sondern als etwas Gegenwärtiges, aber Bedrohliches. Dem Wunschtraum des freien Unternehmertums entspricht gesellschaftlich gesehen ein gesamtgesellschaftlicher Albtraum, der Albtraum der ökologischen Bedrohung. Dem Wunschtraum nach schier unermesslicher Steigerung des Profits entspricht individuell gesehen der Albtraum von Menschen, die in ihrer Arbeit permanent und dauerhaft überfordert sind, die unter „Burn out“ und schlimmeren Folgen von Überlastung leiden. So ergibt sich eine Art doppelter Albtraum, der dem Wunschtraum des freien Unternehmertums entspricht. Dieser doppelte Albtraum bestimmt in gewissem Maße unsere gegenwärtige Lebensweise und macht sie zu einer „negativen Utopie“, oder wie das bei manchen in der Literaturwissenschaft heißt, zu einer „Dystopie“.
2. Selbst gesetzte Zweck und von selbst eintretende Konsequenzen
Diese Albträume, die ökologische Krise und die Überforderung der arbeitenden Menschen, sind offenbar unbeabsichtigte Folgen dessen, was wir tun. Es sind Konsequenzen, die wir nicht wollen. Sie sind aber Resultate unseres Tuns, mit dem wir bestimmte Absichten verfolgen, die wir uns (in gewissem sehr beschränkten Sinne) selbst ausgesucht haben, und die wir zu erreichen pflegen. Unser Tun hat also Folgen, die wir wollen, und insofern sagen wir mit Recht, wir tun etwas „selbst“, und anderweitige Konsequenzen, die wir nicht wollen, und von denen wir sagen, dass sie „von selbst“ eintreten. Alles, was wir in der Natur tun, um unsere Zwecke zu erreichen, hat solche ungewollten natürlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Je größer das ist, was wir uns vornehmen, und je größer die Kräfte sind, mit denen wir es realisieren, desto größer sind auch die ungewollten, sich von selbst einstellenden Konsequenzen unseres Tuns. Aber es gibt noch eine zweite, qualitative Quelle der sich von selbst einstellenden Konsequenzen: Je mehr wir uns bloß darum kümmern, dass wir erreichen, was wir wollen, desto mehr übersehen wir, welche weiteren Folgen unser Tun hat. Je weniger wir darauf achten, was wir in Wirklichkeit insgesamt tun, um unsere Ziele zu erreichen, desto mehr wird sich die Wirklichkeit dessen, was wir insgesamt tun, als eine von selbst eintretende Konsequenz erweisen, desto größer sind die Effekte, die von selbst aus unserem Tun entstehen. Diese Effekte unseres eigenen Tuns stellen sich dann als die Folgen uns gegenüber äußerer – scheinbar bloß natürlicher – Mächte dar. Wir begegnen in der Gefährdung unserer Existenzgrundlage den scheinbar natürlichen, sich von selbst einstellenden Folgen unseres eigenen Tuns. Je besser wir das verstehen, was wir tun, desto geringer werden die Konsequenzen unseres Tuns, die sich in dem Sinne von selbst ergeben, dass wir sagen können, dass wir sie nicht wollten.
3. Die mögliche Verwandlung des „von selbst“ in „selbst“: Das Begreifen
Es ist in diesem Sinne von Bedeutung, dass wir begreifen, was wir tun. Denn das Begreifen dessen, was wir tun, zielt nicht nur auf die Realisierung einer gewünschten Absicht, sondern zugleich auf das Verständnis dessen, was dabei in Wirklichkeit geschieht. Wenn wir uns fragen, wie wir etwas erreichen, dann ist es allein wichtig, dass bei unserem Tun herauskommt, was wir wollen. Wir sprechen dann davon, dass es funktioniert hat. Um eventuelle ungewollte Konsequenzen unseres Tuns kümmern wir uns insofern nicht. Wir erfassen deshalb nur in einem begrenzten Sinne, was wir tun. Die Grenze ist die Absicht, die wir verfolgen. Was jenseits der Absicht durch unser Tun erreicht wird, erfassen wir nicht.
Wenn wir ohne diese Grenze begreifen wollen, was wir tun, fassen wir – nach unseren Möglichkeiten – unser Tun nach der Seite seiner tatsächlichen Wirkung auf. Wir sehen nach unseren Möglichkeiten die Wirkung unseres Tuns in seiner Gesamtheit, oder anders formuliert, wir fassen die menschliche Produktion als Naturkraft auf. Es zeigt sich uns dann die ökologische Krise als ein uns unbewusstes Produkt unseres eigenen Tuns, das uns eben dieser Unbewusstheit wegen als eine – feindliche – Naturkraft gegenübertritt. Beseitigen wir die Unbewusstheit unseres Handelns, dann beseitigen wir in der Tendenz auch diese Form der feindlichen Natur.
Anders formuliert: Wenn es uns gelingt, die Gegenwart in und aus ihren Albträumen zu begreifen, dann eröffnet sich womöglich darin eine „Topie“, ein Weg in eine menschliche Zukunft, in der es nicht nur eine Nische in der Natur für die Menschen gibt, sondern in der die Natur unsere Heimat ist. Allerdings: Begreifen müssen wir selbst, und begreifen müssen wir jeder und jede einzeln – wenn auch im dafür notwendigen Gespräch mit anderen. Das kann mir keiner abnehmen. Begreifen kann ich überdies nur mit Bewusstsein. Wir begreifen nicht „von selbst“, sondern wir wissen darum, dass wir etwas begreifen, wenn etwas begreifen. Das Begreifen als solches hat daher keine im obigen Sinne ungewollten Folgen. Das Begreifen ist also so etwas wie ein – in allen seinen Konsequenzen gewolltes – Tun der Menschen, das ich nur selbst machen kann, das ich bewusst machen muss und das ich – wenn auch notwendig im Zusammenhang mit anderen Menschen – individuell machen muss, wenn begriffen werden soll. Das Begreifen meines Tuns richtet sich daher gegen dessen mir unbewusste Folgen, gegen Prozesse, die sich infolge meines Wirkens von selbst abspielen. Es geht darauf, das „Sich von selbst Abspielen“ solcher Prozesse zu beseitigen, indem ich sie aus meinem eigenen Tun zu erfassen suche. Dabei werde ich mit der Zeit meine Wirkungen so zu modifizieren beginnen, dass sie mir als ein verantwortbares Resultat meines Tuns erscheinen können. Ich will also auf die Dauer nicht nur tun, was ich will, ich will auch wollen, was ich tue, im Rahmen meiner Möglichkeiten.
Ein möglicher Einwand gegen solche Überlegungen lautet: Das ist doch ein illusorischer Anspruch, dass wir begreifen sollen, was wir tun. Wir Menschen sind nicht so gemacht, dass wir dazu in der Lage wären. Die These, die ich vertreten will, ist genau das Gegenteil: Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir Menschen dazu in die Lage versetzt werden, ob wir das wollen oder nicht. Um diese – zunächst befremdliche – These zu untermauern, will ich – nach einigen geschichtlichen Schlaglichtern – einen mir wesentlich erscheinenden Zug der Gegenwart beleuchten, die neue Form der Organisation der Arbeit.
4. Kurze geschichtliche Schlaglichter
Wenn wir die gegenwärtige Lage in ihrem Entstehen begreifen wollen, dann ergibt sich die Möglichkeit, in der Geschichte zu betrachten, wie diese jetzige Situation mit dem doppelten Albtraum entstanden ist. Am Ende der 60 Jahre des vergangenen Jahrhunderts fanden drei Ereignisse statt, die als eine Art Schlaglichter dienen können, um die Entstehung der Gegenwart zu beleuchten:
a. der Bericht des „Club of Rome“ b. die Veränderungen in der Arbeit, die sich mit den Namen „Silicon Valley“ und Bill Gates verbinden c. die internationale Studentenbewegung von 1968.
Der „Club of Rome“ hat Ende der sechziger Jahre darauf hingewiesen, dass die Ressourcen der Erde endlich sind. Er hat überdies auf den drohenden ökologischen Kollaps hingewiesen. Auch wenn in dieser Frage das eine oder andere geschehen ist: Die Gefahr besteht fort, und hat sich seither teils realisiert, teils vergrößert. Die Formen der Arbeitsorganisation verändern sich: Von hierarchisch organisierten Unternehmen geht die Entwicklung hin zu „selbstorganisierten“ Unternehmen. Damit wird sich dieser Artikel gleich noch ausführlicher befassen. Die internationale Studentenbewegung von 1968 hat ein veraltetes Herrschaftssystem angegriffen, das auf Kontrolle und Beherrschung von außen beruht. Solche Herrschafts- und Kontrollsysteme sind seither nicht nur in westlichen Gesellschaften in der Krise. Der untergegangene „real existierende Sozialismus“ beruhte auf einer solchen äußerlichen Kontrolle und Herrschaft. Die genannten Ereignisse können als Keimformen der gegenwärtigen Entwicklung verstanden werden. In den letzten 40 Jahren hat sich ein neuer Typ der Produktion herausgebildet. Er beruht auf einem neuen Schritt in der Entwicklung der Produktivkraft der Menschen. Die Fähigkeiten und die Kräfte, mit denen wir die Produktion organisieren, haben sich grundlegend gewandelt. So betrachtet hat sich auch gewandelt, was wir tun und wie wir es tun. Diese neue Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit wirft neue Probleme auf, bei denen die äußerliche Kontrolle versagt.
5. Die Erscheinungsweise des Neuen in der Arbeitsorganisation
Der Text wird in Kürze fortgesetzt.