Texte:Meine Zeit ist mein Leben
Der Text "Meine Zeit ist mein Leben" ist ein Versuch, gewerkschaftlich auf die neuen Formen der Organisation der Arbeit, die so genannten neuen Managementformen zu reagieren. Er stammt aus dem Jahre 1999. In dieser Zeit hatten Betriebsräten der IBM Düsseldorf im Rahmen der "Denkanstöße" der IG Metall eine Broschüre für die Beschäftigten desselben Titels herausgegeben. Für diese Broschüre ist der Text geschrieben. Die Idee selbst verdankte sich einem Beitrag von Stephan Siemens für eine Betriebsräte-Schulung für die IG Metall 1998 in Stuttgart. Wir drucken ihn hier wieder ab, weil wir uns im Rahmen einer Auseinandersetzung mit grundlegenden Veränderungen in der Gegenwart auch mit ihm beschäftigen wollen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die neuen Managementformen führen - wie Klaus Peters (in: "Woher weiß ich, was ich selber will"- der Text unmittelbar vor diesem Text in derselben Broschüre) gezeigt hat - zum Phänomen "Arbeiten ohne Ende". So ergibt sich die Frage: Wie können die Individuen, die in einem Unternehmen als Beschäftigte arbeiten, ihrer Arbeitszeit selber eine Grenze setzen?
Man könnte auf die Idee komen: "Ganz einfach! Sie hören auf zu arbeiten. Punkt!" Man würde dann den Unternehmensleitungen naiver Weise glauben, dass sie mit den neuen Managementformen die Freiheit im Unternehmen eingeführt hätten. Das ist aber eine völlige Fehleinschätzung der wirklichen Lage, in die ich, der ich in einem solchen Unternehmen arbeite, versetzt werde. Denn wie Klaus Peters gezeigt hat (in dem eben aufgeführten Aufsatz) wird mein Wille insoern ich ein Beschäftigter eines solchen Unternehmens bin, vom Unternehmenszweck kolonisiert und besetzt. Dadurch wird meine Beschäftigung mit der Frage, was ich, der ich als Beschäftigter in einem solchen Unternehmen fungiere, als Individuum wirklich will, zum Ausgangspunkt betrieblicher Interessenvertretungspolitik. Was ich wirklich will in Bezug auf meine Arbeit herauszufinden, muss ich einerseits selber tun; andereseits brauche ich dazu die Diskussion und die Solidarität der Kolleginnen und Kollegen.
I. Arbeiten ohne Ende
Durch die neuen Managementmethoden sehe ich mich in eine Situation gestellt, in der meine Arbeit kein Ende nehmen will. So ist es in gewisser Weise schon bisher. Ich übernehme dies und das, was ich im guten Falle - den ich den Normalfall zu nennen mir angewöhnt habe - in der geplanten Zeit schaffen könnte. Aber es kommt etwas dazwischen, oder es geht etwas schief. Ich hinke dem Zeitplan hinterher. Ich werde nervös, verliere die erforderliche Ruhe und Geduld. Ein Fehler, der sich gerade dann gerne einschleicht, macht mich noch nervöser. Ich werde den Zeitplan wieder nicht einhalten können. Ich habe mich veralkuliert. Dann ist da noch die elektronische Post, die bearbeitet sein will. Sie enthält oft nebenher zu erledigende Arbeitsanforderungen, z. B. von Kolleginnen und Kollegen, die ich nicht hängen lassen will. Die andere Post gibt es auch noch... Eins kommt zum anderen und hinterher habe ich zum Beispiel drei Überstunden, und weiß eigentlich gar nicht so genau, wofür ich sie verbraucht habe. Ich nehme mir das nicht vor. Ich fange an zu arbeiten und erledige, was gemacht werden muss. Es zeigt sich: Ich komme mit meiner Zeit nicht aus. Es ist nur selten möglich zu sagen: "Jetzt ist Schluss! Ich höre auf!" Entweder fällt mir gar nicht auf, dass ich Überstunden mache, und ich merke es erst hinterher. Oder ich komme nicht auf die Idee, Schluss zu machen. Selbst wenn ich auf die Idee komme, nutzt das oft nichts. Denn es gibt viele Gründe, weiter zu arbeiten. Die Termine stehen und müssen eingehalten werden. Ich will die Kolleginnen und Kollegen nicht allein lassen, zusätzlich unter Druck setzen oder ihnen gar in den Rücken fallen. Ich will den Kunden zufriedensellen und so die Zusammenarbeit für die Zukunft angenehm gestalten oder überhaupt nur sichern. Ich will das in mich gesetzte Vertrauen nicht enttäuschen. Ich will gute Arbeit machen, weil ich auch meine eigenen Maßstäbe erfüllen möchte usw. usf. Oft arbeite ich aus solchen und ähnlichen Gründen weiter, obwohl ich weiß, dass ich eigentlich mit Rücksicht auf meine Gesundheit, auf meine Familie, auf meine eigenen Kraft und überhaupt auf mich selbst aufhören sollte.
Wenn ich das einige Zeit gemacht habe, kriege ich zuhause Schwierigkeiten, Streitereien, weil ich nie da bin. Denen möchte ich aus dem Weg gehen. Da arbeite ich lieber länger. Denn bei der Arbeit habe ich es mit Problemen zu tun, die ich lösen kann. Die Probleme zuhause werden immer unlösbarer, jedenfalls sind sie immer schwierig und oft völlig neu. Im Betrieb dagegen kenne ich die Probleme im Allgemeinen und weiß mit ihnen umzugehen. So ist es mir vielleicht ganz recht, länger bei der Arbeit zu sein, obwohl sich dadurch zuhause die Probleme verschärfen. Freunde, Hobbys und Familie verweisen zunehmend. Umgekehrt vereinsame ich mehr und mehr. Der Erolg bei der Arbeit wird für mein Selbstvertrauen und mein Selbstwertgefühl immer wichtiger. Aber er ist unter solchen Umständen auch immer schwieriger zu erreichen. Man hat sich an meine Leistung gewöhnt.
Je mehr die Probleme zunehmen, desto mehr scheint die Bereitschaft, darüber zu sprechen, abzunehmen. Denn ich bin umgeben von Leute, die "es "schaffen, die "es" hinkriegen, oder die jedenfalls erzählen dass sie "es" schaffen. Nur ich scheine damit Schwierigkeiten zu haben, die Aufgaben zu bewältigen. Höchstens im Einzelgespräch kann ich einräumen, dass ich da Probleme habe. Doch ich muss aufpassen, dass ich mir nicht selber schade. Denn wer Probleme hat, gilt als schwach und wird angegriffen; das Einräumen von Problemen schadet im Gerangel um Projekte, um Einfluss und um die eigene Position im Betrieb und unter den Kolleginnen und Kollegen. Deswegen vertusche ich die Sache am besten. So machen es doch alle, oder jedenfalls viele. Es entsteht ein Klima, in dem die wirkliche Arbeitssiuation gar nicht mehr zur Sprache kommt, weil alle sich nur erzählen, wie toll sie "es" hinkriegen.
Diese Situation gab es schon bisher, als es noch geregelte Arbeitszeiten gab. Diese Regelungen sollen nun - im Rahmen der sogenannten "Vertrauensarbeitszeit" - wegfallen, damit noch mehr gearbeitet wird. Die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit soll und wird verfließen. Wenn die Arbeitszeit nicht mehr geregelt ist, dann muss ich meiner Arbeit selbst ein Maß setzen. Aber die Erfahrungen zeigen, das ich dazu nicht oder in den seltensten Fällen in der Lage bin. Denn um meine Zeit selbst einteilen zu können, müßte ich wissen, was mir gut tut, und was für mich das Richtige ist, und dann entsprechend Handeln können. Aber wie soll ich das wissen? Was ist mein Maßstab? Wer bin ich und welche Form, meine Zeit zu verbringen, ist mir angemessen? Wie kann ich mich mit solchen Fragen auseinandersetzen? Der Satz: "Meine Zeit ist mein Leben!" soll darauf eine Antwort geben. Aber bevor wir diese Antwort betrachten, machen wir einen Umweg, der als der einfachere und vielversprechendere Weg erscheit. Deswegen ist er vielleicht der bisher im Wesentlchen begangene Weg, der überdies politisch sehr erfolgreich war. Denn die Antwort auf die oben gestellten Fragen, scheint ganz einfach zu sein: Meine Zeit gehört mir! Ich möchte aber vorab schon sagen, dass diese Antwort meines Erachtens nicht ausreicht und als einzige Antwort auf die Probleme sogar falsch ist, weil sich in ihr das Problem wiederholt.
II. Meine Zeit gehört mir!
"Wer ich selber bin, das werde ich doch wohl wissen", könnte man argumentieren. "Denn ich habe doch ein Bewußtsein meiner selbst, ein Ichbewusstsein, das es mir erlaubt, mir meine Zeit frei einzuteilen. Denn meine Zeit gehört schließlich mir. Wie ich meine Zeit verbringe, das bestimme ich."
Meine Zeit ist in dieser Vorstellung eine Art noch unbestimmter Rohstoff, einem noch leeren Kalenderblatt vergleichbar, das noch frei ist und mit Terminen belegt werden kann. Die Zeit als solche schreibt mir nicht vor, wie ich sie zu verbringen habe. Nicht die Zeit bestimmt mich, so könnte man argumentieren, sondern umgekehrt: Ich bestimme, was ich in dieser Zeit mache. Die Zeit selbst ist sozusagen leer und harrt der Erfüllung durch das, was ich in ihr mache, was ich in meinen Kalender eintrage. Und das, so scheint es, liegt an mir.
II. a. Viele äußere Anforderungen an meine Zeit
Aber wenn ich das durchdenke, ergeben sich sofort Einschränkungen. Selbstverständlich muss ich mich mit zahlreichen Anforderungen auseinandersetzen, die von außen auf mich zukommen. Ich kann solche Anforderungen benutzen, um meiner Arbeitszeit eine Grenze zu setzen. Zum Beispiel habe ich auch noch Familie. ich bin nicht nur zum Arbeiten da, sondern ich muss mich auch um meine Familie und meine Kinder kümmern. Dies ist gesellschaftlich notwendig und berechtigt. Meine eigenen Eltern sind inzwischen so alt, das ich viele Dinge für sie erldigen muss. Ich habe Nachbarn und Freunde, mit denen ich den Kontakt nicht verlieren will. Vielleicht halte ich mir Haustiere, die ich versorgen und pflegen muss. Ich habe Verpflichtungen im öffentlichen Leben, bin vielleicht in Vereinen. Ich habe Hobbys, will kulturell und politisch einigermaßen auf dem Laufenden sein; und ich muss mich schließlich erholen und entspannen... Womöglich bin ich in einer politischen Partei aktiv, in der Gewerkschaft oder in einem Betriebsrat... Die Anforderungen nehmen kein Ende. So kann ich mich nicht nur um die Arbeit kümmern. Es gibt auch andere Aufgaben, die ich zu erfüllen habe.
I. a. 1. Andere gesellschaftlich berechtigte Anforderungen
In diesem Sinne kann man zum Beispiel die gewerkschaftliche Kampagne "Am Samstag gehört Papi mir!" auffassen. Eine andere - gesellschaftlich ebenso berechtigte - Anforderung an mich bringe ich gegen überbordende Anforderungen meines Unternehmens an mich als "Arbeitnehmer" in Stellung. Aus der gesellschaftlichen Berechtigung und Notwendigkeit der Kindererziehung leite ich die Berechtigung der Gegenwehr gegen die überzogene Beanspruchung durch das Unternehmen ab. Denn wenn ich auch am Samstag für das Unternehmen da sein muss, dann bin ich nicht mehr in der Lage, meinen Verpflichtungen als Vater nachzukommen, die aber gesellschatlich betrachtet genauso wichtig und wertvoll sind. Ich kann auf diesem Wege im gewerkschaftlichen Kampf meiner Arbeitszeit eine Grenze ziehen, indem ich die Anforderungen der Kindererziehung gegen die Anforderungen in der Arbeit setze.
II. a. 2. Zeitmanagement
Auf privater Ebene stellt sich das Problem dann so dar: Wie kann ich möglichst viele solcher Anforderungen erfüllen? Da mein Zeitbudget beschränkt ist, brauche ich dafür ein "vernünftiges Zeitmanagement". Der Rohstoff Zeit muss sparsam verwendet werden. Ich muss mir selber sagen: "Jetzt reiß Dich doch mal zusammen, dann wird das schon funktionieren!" Eine solche Handlungsweise setzt mich zusätzlich unter Druck. Sie fordert von mir die individuelle Fähigkeit, mit schier unendlichen Anforderungen an mich durch die Form meiner Zeiteinteilung fertig zu werden. Statt mich auf mich selbst zu besinnen - wie es aus der Perspekive des Zeitmanagements erscheint, eine weitere Anforderung an mich, die als Zeitverschwendung erscheinen kann -, soll ich vielmehr meine Möglichkeiten, solche Anforderungen zu bedienen, effektivieren. Der "Zeitmanager in mir" sagt: "Jezt reiß Dich doch gefälligst zusammen!" Aber wer ist das, und wie ist er, mein "innnerer Zeitmanager"? Er selbst steht außer jeder Diskussion. Denn weder hat er die Anforderungen erfunden, noch sagt er mir, welche ich zu bedienen habe. Alle zu bedienen ist aber deswegen unmöglich, weil dafür schier unendlich viel Zeit erforderlich wäre. Ich komme mit dieser Strategie jedenfalls in das Problem, mich dauernd entschuldigen zu müssen, weil ich nicht alles machen kann, was ich nach diesen Anforderungen machen müsste.
So wichtig und hifreich ein gutes Zeitmanagement ist - und ich bin persönlich in meiner Zeitplanung ziemlich chaotisch, so dass ich gut ein besseres Zeitmanagement gebrauchen könnte -, so wichtig und richtig ist es auch, dass ein Zeitmanagement bei der Frage scheitern muss, wer ich bin und was ich mit meiner Zeit anfangen kann. Philosophisch gesehen ist ein solches Scheitern positiv zu beurteilen, wenn es sich auf das Problem bezieht, sich selbst zu bestimmen durch richtige Zeiteinteilung. Ein solcher Versuch muss scheitern, er wird scheitern, und es ist auch gut so wie sich noch zeigen wird.
II. b. Die sinnvolle Nutzung der Zeit
Aber es stellt sich auch die Frage, ob ich alle Anforderungen erfüllen soll. Dann handelt es sich nicht mehr um das Problem, wie ich möglichst viele Anfoderungen erfüllen kann. Jetzt geht es darum, was für Anforderungen ich erfüllen soll, d.h. um die Frage der Bewertung dessen, was ich mit meiner Zeit sinvollerweise anfange. Dies ist eine Frage der Beurteilung, ob meine Zeitgestaltung sinnvoll ist, nicht eine Frage des technischen Zeitmanagements. Das Zeitanangement hilft mir bei der Frage, wie ich meine Zeit effektiv einteile; die Beurteilung der Zeiteinteilung nach dem Sinn dessen, was ich tue, beantwortet die Frage, was ich tun soll, wofür ich mir Zeit nehmen soll. Selbstverständlich ist es nicht sinnvoll, wenn ich Anforderungen zu bedienen versuche, die unendlich sind, die mich maßlos überfordern. Ich muss eine Auswahl treffen. Während ich im Zeitmanagement eine Anforderung gegen die andere ausspiele und dadurch jede einzelne Anforderung begrenze, stelle ich mich bei der Beurteilung meiner Zeitverwendung nach ihrem Sinn über alle Anforderungen und bewerte sie nach ihrer Bedeutung für mich. Ich frage mich: Verwende ich meine Zeit sinnvoll? Wie lange hat es für mich Sinn, dies zu tun?
II. b. 1. Ich stehe über den Anforderungen
Auch auf dem Wege der Beurteiung meiner Zeitverwendung nach ihrem Sinn kann ich meiner Arbeit im gewerkschaftlichen Kampf Grenzen setzen und damit erfolgreich sein. Wenn ich etwa sage: "35 Stunden sind genug!", dann formuliere ich einen - aus meiner Beurteilung nach dem Sinn begründeten - Anspruch auf meine Zeit, der zugleich sozial gerechfertigt ist, weil dadurch die Chance aller auf einen Arbeitsplatz vergrößert wird. Es handelt sich um eine sozial gerechte Maßnahme. Zugleich fordere ich Zeit für mich, die ich sinnvoll verwenden kann. Dabei führe ich nicht andere Tätigkeiten an, die ich mit der gewonnenen Zeit machen kann. Ich setze auch nicht auf deren gesellschaftliche Berechtigung, sondern ich sage: Es ist genug! Ich stelle mich über die Anforderungen, und bewerte aus diesem Standpunt die Arbeit als eine der Anforderungen. Ich ziehe gemeinsam mit anderen der Arbeitszeit eine Grenze, jenseits deren die Arbeit für mich keinen weiteren Sinn mehr hat, keine Berechtigung für meine persönliche Entwicklung. Was ich mit der übrigen Zeit mache, spielt in dieser Forderung keine Rolle. Es reicht, dass ich der Arbeitszeit eine Grenze setze. Feilich kann ich das nicht alleine tun, sondern nur in einer gemeinsamen, solidarischen gewerkschaftlichen Aktion. Diese Aktion beruht auf gemeinsamen Interessen, die eine Vereinheitlichung in der politischen Aktion ermöglichen und dadurch die Gegenmacht zu erzeugen erlauben, die zur Durchsetzung dieser Forderung notwendig war.
II. b. 2. Die Verurtelung meiner Zeitvergeudung
Privat hingegen kann ich auf dem Wege der Beurteiung meiner Zeiteinteilung nach ihrem Sinn viele Anforderungen vernachlässigen und mich dadurch entlasten. Aber es bleiben doch so viele übrig, dass ich keine Zeit vergeuden sollte. Was immer ich tue, es sollte wertvoll sein, und den Wert meiner Zeit zum Ausdruck bringen. Ich persönlich zum Beispiel zappe abends vor dem Einschlafen oft eine Stunde und mehr. (Inzwischen nicht mehr. Ich habe den Fernseher abgeschafft, vielleicht deshalb.) Zappen ist reine Zeitvergeudung und aus dem Gesichtspunkt der Beurteilung meiner Zeiteinteilung ein völlig sinnloses Verhalten, um mich gelinde auszudrücken. Ich glaube aber, das Zappen zu brauchen, um einschlafen zu können. Es dient mir dazu, abzuschalten, zu vergessen, auch zu verdrängen, was mich beunruhigt und mich so am Einschlafen hindert. Es gibt noch mehr solcher Tätgkeiten, bei denen ich mich zu entspannen glaube, die aber als reine Zeitverschwendung erscheinen, wenn ich sie unter dem Gesichtspunkt der Sinnhaftigkeit meiner Zeiteinteilung beurteile. Solche Zeitvergeudung ist zu verurteilen. Im Sinne einer solchen Verurteilung kann man - oder auch ich - mir vorhalten: "Über Deine Zeit musst Du schon selbst verfügen können. Das ist ja wohl das Mindeste, was man verlangen kann." Der nächste Schritt ist also der, dass man das Problem als ein Problem der Einzelnen ansieht und ihnen ihre Unfähigkeit vorwirft: "Wenn Du nicht in der Lage bist, Dich vernünftgig zu verhalten, dann ist das Dein Problem. Das geht uns nichts an. Reiß dich gefälligst zusammen!" Ich versuche alo, mich zusammenzureißen. Das geht so: Ich versuche mich derart zu trerorisieren, dass ich - gewissermaßen aus Angst vor mir selbst, vor meinem eigenen Urteil - keine Zeitvergeudung mehr zulasse. Ein solcher Versuch muss scheitern oder unglücklich machen.
Denn bei dieser Verurteilung bin Verurteiler und Verurteilter in einem: Ich bin im Widerspruch mit mir selbst. Mein Geist - so könnte ich sarkastisch scherzen - ist willig, aber mein Fleisch ist schwach. Diese Unterscheidung zwischen meinem Verhalten und meinem Urteil, ist kein Zufall, sondern der schlechte Witz der Sache, das, worauf es bei der Beurteilung dem Sinn nach ankommt. Denn der verurteilende Teil von mir selbst ist wieder, wie beim Zeitmanagement außer jeder Diskussion. Wer ich selbst bin und was ich sinnvoller Weise täte, muss ich wissen können, damit ich urteilen kann. Ein solches Wissen um mich selbst muss ich voraussetzen. Aber woher weiß ich das? Woher weiß ich, wer ich selber bin und was mich zum Handeln bewegt.
III. Meine Zeit ist mein Leben!
Sowohl beim Zeitmanagement als auch bei der Verurteilung meiner Zeitvergeudung muss ich schon wissen, wer ich bin. Das weiß ich in gewisser Weise auch, insofern ich ein Ichbewusstsein habe. Aber wenn ich die Sache durchdenke, findet ein merkwürdiges Umschlagen statt, eine Bewegung, in der ich mir zugleich neu begegne, in der ich mir nicht nur meiner bewusst bin, sondern auch anfange, mich zu erkennen.
III. a. Wer bin ich selber?
Wenn ich voraussetze, dass ich mich selber kenne, mache ich folgende Erfahrung: Zunächst habe ich unmittelbar und einfach so ein Ichbewußtsein, wie alle anderen Menschen auch. Dieses Ichbewußtsein ist allen Menschen gemeinsam. Es soll auch nicht davon abhängig sein, wie ich meine Zeit verbringe, d. h. wie ich in Wirklichkeit bin. Im Gegenteil: Das Ichbewusstsein soll bestimmen, wie ich meine Zeit verbringe und was ich mit meiner Zeit anfange, wie ich also in Wirklichkeit bin. Wie ich in Wirklichkeit bin, so bin ich unterschieden von allen anderen Menschen; denn in Wirklichkeit bin ich anders als alle andern Menschen. Dieser Unterschied stellt sich darin dar, wie ich meine Zeit verbringe. Und so soll es bei allen anderen Menschen auch sein. Die Menschen sollen selbst bestimmen, wie sie in Wirklichkeit sind, wie sie sich voneinander unterscheiden. Deshalb scheinen die Menschen auch frei zu sein. Dass ich das nicht kann, schiebe ich auf meine Inkonsequenz im Zeitmanagment oder darauf, dass ich im Vermeiden von Zeitvergeudung nicht durchsetzungsfähig genug bin. Ich habe nicht die Kraft zur sinnvollen Zeitverwendung. Ich denke mir: Als Mensch sollte ich das eigentlich können. Aber ich im Speziellen kann es nicht, weil ich nicht geübt genug bin, nicht konequent genug... ec. Im Gespräch mit anderen freilich erlaube ich mir, so zu tun, als ob das bei mir klappen würde... Man gönnt sich ja sonst nichts. Damit halte ich die Ilusion aufrecht, das die Menschen das eigetlich können müssten.
Abr an dieser Stelle lohnt sich eine Überlegung: Ist es denn gut, wenn es klappt? Beim Zeitmanagement und bei der Beurteillung meiner Zeitverwendung versucht mein Ichbewußtsein einen wachsenden Einfluss auf meine wirkliche Zeitgestaltung zu gewinnen. Es trifft dabei auf einen Widerstand, der den Erfolg immer wieder einschränkt und behindert. Wenn ich mir das klarmache, stellt sich heraus, das mein Leben gar nicht darauf gewartet hat, vom Ichbewußtsein in dieser Weise bestimmt zu werden. Mein Leben findet in gewisser Weise schon statt und hat seine eigene Zeiteinteilung, die dem Versuch des Ichbewußtseins, meine Zeit zu bestimmen, als ein Widerstand entgegentritt. Bei der Inkonsequenz im Zeitmanagment, bei der Mangelhaftigkeit der Zeitvergeudung, bei dem "schwachen Fleisch" handelt es sich darum, wie ich meine Zeit wirklich verbringe.
Diese Entdeckung führt mich zu mir, wie ich wirklich bin, wie sich mein Leben in der Zeit darstellt. Es stellt sich heraus, dass mein Leben schon bestimmt ist, bevor mein Ichbewusstsein auf die Idee kommt, dass meine Zeit mir gehört, und dass ich sie im Selbstmanagement bestimmen oder in ihrer Eintellung beurteilen könnte. Das Ichbewußtsein ist einfach so da. Aber es enthält keine Erkenntnis meiner selbst, keine Erkenntnis, wie ich wirklich bin. Wie ich wirklich bin, erscheint deswegen als ein Widerstand, auf den ich bei dem Versuch treffe, mich selbst in meiner Wirklichkeit zu bestimmen. So werde ich auf diesem Wege zu dem Satz geführt: Meine Zeit ist mein Leben!
III. b. Meine Zeit ist mein Leben! - Eine Feststellung
Meine Zeit ist mein Leben! Dieser Satz ist zunächst eine Feststellung, keine Forderung. Diese Feststellung ist unwidersprechlich wahr. Es kann keiner kommen und sagen: Dieser Satz stimmt nicht. Der Satz ist wahr. Es kann auch keiner sagen: Verschieben Sie Ihr Leben. Leben Sie später, zum Beispiel wenn Sie einen Aufhebungsvertrag unterschrieben haben. Ich lebe jetzt, immer jetzt, und ich habe nur ein Leben. Mein Leben kann ich nicht verschieben. Ich könnte es ja nzur in der Zeit verschieben, und meine Zeit ist mein Leben.
Aber diesr Satz ist nicht nur wahr, er stößt auch Überleegungen an. Wenn meine Zeit mein Leben ist, dann ist die Art, wie ich meine Zeit verbringe, eine Darstellung meines Lebens und also meiner selbst. Ich kann deswegen durch NAchdenken und Sprechen mit Anderen darüber, wie ich meine ZEit verbringe, auf einem Umweg mich selbst kennenlernen, zur Erkenntnis meiner selbst gelangen. Meine Zeit ist kein unbestimmter Rohstoff mehr, der stört. Sie ist nicht wie ein leeres Kalenderblatt, das aur Eintragungen meines Ichbewusstseins wartet. In Wirklichkeit stellt sich in der Zeit dar, wer ich wirklich bin. Wenn ich mich damit beschäftige, wie ich meine Zeit wirklich verbringe, dann erkenne ich mich selbst, wie ich im Unterschied zu allen anderen Menschen bin. Dann lerne ich verstehen, welche Kräfte und Anforderungen auf mich einwirkenj, welche Mächte mein wirkliches Verhalten bestimmen, welche Funktionen ich wirklich bediene und erfülle, und wie ich mich mit ihnen arrangiere oder auch nicht.Ich verlasse mich nicht auf mein unmittelbares Ichbewusstsein, das bestimmen soll, wie ich zu sein habe, sondern setze voraus, dasss ich schon jemand bestimmter bin, bevor mein Ichbewuswstsein zu entscheiden versucht, wie ich zu sein habe. Ich verurteikle nicht mehr meine Zeitverschwendung, sondern beschäftige mich damit, warum ich wohl tue, was ich tue. Denn ich möchte in wachsendem Maße verstehen, wie ich in Wirklichkeit - durch welche Mächte, Kräfte und Funktionsweisen, die als äußere und fremde Anforderungen an mich auftreten - bestimmt bin. Dies herauszufinden, ist nur möglich im Zusammenhang und Gespräch mit anderen Menschen, die mir zuhören, mich ernstnehmen und mich deswegen mit ihren Erfahrungen mikt mir konfrontieren.
Der erste Anstoß zur Überlegung führt also dazu, die Fragerichtung umzukehren. Ich frage nicht: Was muss ich tun? oder: Wie schaffe ich das. Sondern ich frage: Wie verbringen ich ihre Zeit? Welche Kräfte und Mächte bestimmen mich also. Auf diese Art merke ich, wie sehr ich in meinem Handeln, zum Beispiel vom Unternehmenszweck bestimmt bin. Ich kann mich in mir täuschen. Deswegen ist das Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen sehr wichtig, die mich in meinem Selbstbild korrigieren. Wie ich mich in meinem Leben wirklich darstelle, d. h. wie ich meine Zeit verbringe, das erfasse ich im Prozess der Selbsterkenntnis. Was beim Zeitmanagement stört, und bei der Zeitbeurteilung verurteilt wird, das bin ich selbst, wie ich in Wirklichkeit bin. Wenn Zeitmanagement und Zeitbeurteilung, die Aufgabe nicht lösen, die ihnen mein Ichbewusstsein zuweist, dann ist das etwas Gutes, weil es mich zur Erkenntnis meiner selbst und der mich in meiner Zeitgestaltung bestimmenden Kräfte führt. Dabei wird der Unternehmenszweck als eine dieser Kräfte sichtbar.