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(4. Arthur Dimmesdale)
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Aber diese Entschuldigung vergeht schnell. Denn die wichtigste Auswirkung der Doppelmoral ist eine Lähmung. Arthur Dimmesdale handelt mit einer Ausnahme immer nur auf fremde Aufforderung oder unbemerkt im Dunklen. In seinem zweiten Auftritt spricht er auf Bitten von Hester Prynne. Als Gouverneur Bellingham und Reverend John Wilson Hester Prynne ihr Kind wegnehmen wollen, tritt er - auf ihre Aufforderung hin - für sie ein. Er spricht gut und überzeugend. Die Herrschaften lassen auf seine Fürsprache hin von dem Plan ab. Auf Druck der Gemeinde begibt sich Arthur Dimmesdale in die Behandlung von Roger Chillingworth. Derselbe Druck führt schließlich dazu, dass er mit Roger Chillingworth in ein Haus zieht. Als er zu handeln beginnt, geschieht das im Dunkeln oder im Privaten, wenn es niemand merkt. So hat er sich mit Hester Prynne geliebt, so stellt er sich in der Nacht auf den Pranger und spielt Reue. Der Plan der Flucht wird von Hester Prynne entwickelt und vorbereitet. Das Gewese, dass um Arthur Dimmesdale gemacht wird, verdeckt, dass er nie aus eigenem Antrieb und aus eigener Verantwortung handelt. Arthur Dimmesdale ist durch die Doppelmoral gelähmt.<ref>
 
Aber diese Entschuldigung vergeht schnell. Denn die wichtigste Auswirkung der Doppelmoral ist eine Lähmung. Arthur Dimmesdale handelt mit einer Ausnahme immer nur auf fremde Aufforderung oder unbemerkt im Dunklen. In seinem zweiten Auftritt spricht er auf Bitten von Hester Prynne. Als Gouverneur Bellingham und Reverend John Wilson Hester Prynne ihr Kind wegnehmen wollen, tritt er - auf ihre Aufforderung hin - für sie ein. Er spricht gut und überzeugend. Die Herrschaften lassen auf seine Fürsprache hin von dem Plan ab. Auf Druck der Gemeinde begibt sich Arthur Dimmesdale in die Behandlung von Roger Chillingworth. Derselbe Druck führt schließlich dazu, dass er mit Roger Chillingworth in ein Haus zieht. Als er zu handeln beginnt, geschieht das im Dunkeln oder im Privaten, wenn es niemand merkt. So hat er sich mit Hester Prynne geliebt, so stellt er sich in der Nacht auf den Pranger und spielt Reue. Der Plan der Flucht wird von Hester Prynne entwickelt und vorbereitet. Das Gewese, dass um Arthur Dimmesdale gemacht wird, verdeckt, dass er nie aus eigenem Antrieb und aus eigener Verantwortung handelt. Arthur Dimmesdale ist durch die Doppelmoral gelähmt.<ref>
 
Diese Beschreibung widerspricht Vorstellungen, die mit der Doppelmoral eine größere Handlungsfreiheit verbinden. Denn bei Arthur Dimmesdale mag zwar eine größere Handlungsfreiheit gegeben sein. Die Auswirkung der Doppelmoral aber ist nicht Handlungsfreiheit, sondern im Gegenteil Lähmung.</ref>
 
Diese Beschreibung widerspricht Vorstellungen, die mit der Doppelmoral eine größere Handlungsfreiheit verbinden. Denn bei Arthur Dimmesdale mag zwar eine größere Handlungsfreiheit gegeben sein. Die Auswirkung der Doppelmoral aber ist nicht Handlungsfreiheit, sondern im Gegenteil Lähmung.</ref>
Daher kann diese Form der Entschuldigung nicht gelten, weil sie selbst ein Ausdruck der Befangenheit in der Doppelmoral ist. Diese Lähmung kommt auch im zunehmenden körperlichen Verfall und allgemeiner Schwäche zum Ausdruck. Sie äußert sich in einer ebenfalls zunehmenden Verunsicherung. So fürchtet er, dass die Gesichtszüge Pearls den seinen so ähnlich werden könnten, dass er gewissermaßen von der Natur verraten wird. Immer wenn Arthur Dimmesdale mit Ereignissen konfrontiert ist, die ihn verunsichern, legt er seine Hand auf sein Herz. Diese Geste tritt im Laufe des Romans immer öfter auf. Auch emotional tritt diese Lähmung in Erscheinung, denn Arthur Dimmesdale - der ein sicheres Gefühl hat, dass Roger Chillingworth ihm schadet - kann trotzdem in ihm seinen Feind nicht erkennen, weil er - wie Hawthorne ausdrücklich feststellt - vereinsamt ist und keine Freunde hat.
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Daher kann diese Form der Entschuldigung nicht gelten, weil sie selbst ein Ausdruck der Befangenheit in der Doppelmoral ist. Diese Lähmung kommt auch im zunehmenden körperlichen Verfall und allgemeiner Schwäche zum Ausdruck. Sie äußert sich in einer ebenfalls zunehmenden Verunsicherung. So fürchtet er, dass die Gesichtszüge Pearls den seinen so ähnlich werden könnten, dass er gewissermaßen von der Natur verraten wird. Immer wenn Arthur Dimmesdale mit Ereignissen konfrontiert ist, die ihn verunsichern, legt er seine Hand auf sein Herz. Diese Geste tritt im Laufe des Romans immer öfter auf. Auch emotional tritt diese Lähmung in Erscheinung, denn Arthur Dimmesdale - der ein sicheres Gefühl hat, dass Roger Chillingworth ihm schadet - kann trotzdem in ihm seinen Feind nicht erkennen, weil er - wie Hawthorne ausdrücklich feststellt - vereinsamt ist und keine Freunde hat.
   
 
Arthur Dimmesdale setzt sich mit seiner Lähmung auseinander, indem er Leib und Seele trennt. Den Leib gibt er der sündigen Welt preis und versucht ihn zu bestrafen, um seine Seele zu retten, mit der er Gott dienen will. Als sehr leidenschaftlicher Mensch muss er sich "zusammenreißen". Er versucht seine Leidenschaften und Triebe nicht in dem Sinne zu beherrschen, dass er ihnen Raum zur Entfaltung verschafft, sondern indem er sie zu unterdrücken versucht. In seiner Fähigkeit dieser Form der Beherrschung seiner selbst, hat er es zu einer gewissen Perfektion gebracht, die es ihm ermöglicht, Roger Chillingworth lange Widerstand zu leisten. Durch diese Form der Selbstbeherrschung ist er aber nicht in der Lage, seine Triebhaftigkeit zu überwinden. Er muss sie abzutöten versuchen, d.h. er befriedigt sie dadurch, dass er sie in aggressiven Aktionen gegen sich selbst wendet. Er kasteit sich, macht Nachtwachen, peitscht sich und quält sich auf die verschiedensten Weisen. Er wird also auch durch seine eigenen Aktionen immer kränker und schwächer.
 
Arthur Dimmesdale setzt sich mit seiner Lähmung auseinander, indem er Leib und Seele trennt. Den Leib gibt er der sündigen Welt preis und versucht ihn zu bestrafen, um seine Seele zu retten, mit der er Gott dienen will. Als sehr leidenschaftlicher Mensch muss er sich "zusammenreißen". Er versucht seine Leidenschaften und Triebe nicht in dem Sinne zu beherrschen, dass er ihnen Raum zur Entfaltung verschafft, sondern indem er sie zu unterdrücken versucht. In seiner Fähigkeit dieser Form der Beherrschung seiner selbst, hat er es zu einer gewissen Perfektion gebracht, die es ihm ermöglicht, Roger Chillingworth lange Widerstand zu leisten. Durch diese Form der Selbstbeherrschung ist er aber nicht in der Lage, seine Triebhaftigkeit zu überwinden. Er muss sie abzutöten versuchen, d.h. er befriedigt sie dadurch, dass er sie in aggressiven Aktionen gegen sich selbst wendet. Er kasteit sich, macht Nachtwachen, peitscht sich und quält sich auf die verschiedensten Weisen. Er wird also auch durch seine eigenen Aktionen immer kränker und schwächer.

Version vom 4. Juni 2007, 11:23 Uhr

"Der Scharlachrote Buchstabe" von Natahaniel Hawthorne
Religion und politiche Herrschaft in den Anfängen der USA
von Stephan Siemens
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Hawthorne entstammte einer puritanischen Familie, die mit dem - im Roman erwähnten - Gouverneur Winthrop 1630 nach Massachusetts kam und seither in Salem gelebt hat. Einer der unmittelbaren Vorfahren väterlicherseits, William Hathorne war bekannt für seine Verfolgung von Quäkern und anderen Sekten in Amerika. Dessen Sohn John Hathorne hat in einem Hexenprozess in Salem als einer von mehreren Richtern Todesurteile gegen Frauen ausgesprochen und vollstrecken lassen. Insgesamt sind bei diesen Prozessen 19 Frauen aufgrund von Aussagen von Kindern umgebracht worden. (Arthur Miller hat in seinem Theaterstück "Hexenjagd" diese Prozesse sehr eindringlich geschildert.) Bei dem Roman handelt es sich für Nathaniel Hawthorne auch um eine Entschuldigung für diese Taten, eine Selbstkritik, wie aus der Einleitung "Das Zollhaus" hervorgeht.

Hawthorne setzt sich mit dieser seiner familiären Tradition im Roman "Der Scharlachrote Buchstabe" auseinander. Es handelt sich um eine Abrechnung mit dem Puritanismus, der in Europa Calvinismus heißt. Diese Abrechnung beinhaltet auch einen Versuch, mit symbolistischen Mitteln den Kern der Abirrung vom Christentum in Erinnerung zu rufen. Es geht um eine - christlich motivierte - Kritik der Instrumentalisierung der Religion für politische Herrschaft. Dagegen wird die wirkliche Lehre des Christentums gesetzt, die Lehre von der Möglichkeit der Vergebung der Sünden als dem einzigen Weg zur Freiheit.

Der Puritanismus ist eine der protestantischen Glaubensrichtungen und Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, also eine christliche Kirche. Das Christentum ist eine Erlösungsreligion. Ihre Kernlehre ist: Gottes Sohn, der Christus, ist Mensch geworden, Jesus, und als Mensch gestorben, damit uns unsere Sünden vergeben werden. Durch das Gesetz werden die Sünden offenbart, aber Jesus Christus hat das Gesetz überwunden, indem er die Möglichkeit auf Vergebung der Sünden eröffnet. Durch die Vergebung der Sünden erhalten wir von Gott - nach Tod und Wiederauferstehung - das ewige Leben. Zur Vergebung der Sünden sind keine Leistungen oder besonderen Taten erforderlich, sondern einzig und allein der Glaube an Gottes erlösende Tat in Jesus Christus. Aber der Glaube an die Vergebung der Sünden hat auch hier auf Erden schon Auswirkengen, da die Christen ihrerseits Sünden vergeben können und darin ihren Glauben darstellen. So ist - speziell in der Kirche - die Vergebung der Sünden Grundlage für ein neues Zusammenleben der Menschen. Der Gegensatz von Unfreiheit unter dem Gesetz und Erlösung durch Vergebung der Sünden als Freiheit zu einem neuen Leben wird also im Christentum unter dem Titel "Gesetz und Evangelium" diskutiert, wobei das Gesetz mit dem Alten Testament, das Evangelium mit dem Neuen Testament verbunden wird. Zur Bibel gehören beide, so dass auch das Gesetz zu Gottes Erlösungswerk gehört, aber als eine durch Jesus Christus überwundene, wenn auch weiterhin geltende, Voraussetzung der erlösenden Tat Gottes.

Diese Grundlehre findet ihre Darstellung hier auf Erden in der Möglichkeit und in der Fähigkeit der Christen, Sünden zu vergeben, und nicht in der Zufriedenheit und dem Stolz auf eigene Leistungen. Aber durch die Verknüpfung mit der politischen Herrschaft in der entstehenden neuen Welt in Amerika verkehrt sich diese Grundlehre in ihr Gegenteil. Diese Verkehrung zeigt Hawthorne sowohl in der Darstellung der Lehre wie vor allem in der Person des Reverend Arthur Dimmesdale auf. Zugleich zeichnet er in Hester Prynne ein Gegenbild des christlichen Umgangs mit der eigenen Sünde, der allerdings letztlich an der Liebe zu Arthur Dimmesdale scheitert.

1. Einige formale Beobachtungen

Der Roman spielt in Boston in den Jahren 1642 bis 1649. Er gliedert sich in vier Teile, deren erster in der puritanischen Öffentlichkeit spielt. Die Handlung geht vom Magistrat aus, vertreten durch Gouverneur Bellingham und Reverend John Wilson. Der zweite Teil des Romans spielt in den privaten Räumen von Roger Chillingworth und Arthur Dimmesdale. Die Handlung wird getragen von Roger Chillingworth, der Arthur Dimmesdale durchwühlt und quält. Der dritte Teil des Romans spielt im Wald in der Umgebung von Boston. Die Handlung geht von Hester Prynne aus. Schließlich findet der vierte Teil der Handlung wieder in der puritanischen Öffentlichkeit, der sich allerdings Indianer, abenteuerlicher Gestalten vom Umland und von der See, Matrosen eines Seeräuberschiffs, zugesellen. Träger der Handlung ist jetzt Arthur Dimmesdale.

Eine zweite formale Beobachtung ergibt sich aus dem Ort des Prangers, der in drei Szenen im Mittelpunkt steht. Am Anfang steht Hester Prynne mit Pearl als Baby am Pranger. Arthur Dimmesdale steht auf einem Balkon, wo die Herrschenden versammelt sind, über dem Pranger, das puritanische Volk und Roger Chillingworth steht vor dem Pranger. Dann stellt sich Arthur Dimmesdale mitten in der Nacht auf den Pranger, von der Öffentlichkeit unbemerkt. Hester Prynne und Pearl stellen sich zu ihm. Roger Chillingworth steht vor dem Pranger. Am Schluss des Romans stellt sich Arthur Dimmesdale in der Öffentlichkeit mit Hester Prynne und Pearl auf den Pranger. Roger Chillingworth stellt sich zu ihnen. Der Pranger ist deswegen für die Handlung ein entscheidender Ort, der Anfang, Mitte und Ende der Handlung bestimmt. Vor und nach der eigentlichen Handlung gibt es eine Art Prolog und eine Art Epilog.

2. Der Anfang des Romans

Der Roman selbst beginnt mit der Charakterisierung einer Gefängnistür, vor der eine Menge finster blickender Puritaner und Puritanerinnen stehen. Mit welchen Utopien auch immer die Siedler in die neue Welt gekommen sind, sie haben jedenfalls sehr schnell die Notwendigkeit erfahren, für den Friedhof und für das Gefängnis Platz zu schaffen. (Hawthorne führt mit dieser Bemerkung die politische Herrschaft auf die Sterblichkeit der Menschen zurück.) Das Gefängnis von Boston, an einem hässlichen Ort gebaut, sieht schon nach 20 Jahren so aus, als ob es schon immer da gestanden hätte, ja als ob es nie eine Jugend gehabt hätte. Es scheint das älteste Gebäude von Boston zu sein. Die Herrschaft präsentiert sich als ungeworden und immer schon da. Das Gefängnis ist die schwarze Blume der Zivilisation, wie Hawthorne sich ausdrückt.

Aber direkt neben dem Gefängnis wächst - in der an sich hässlichen und mit hässlichen Pflanzen bestückten Gegend - ein wilder, duftender Rosenstrauch, mit welchem die Natur die schwarze Blume der Zivilisation konterkariert und den verurteilten Verbrechern und Verbrecherinnen oder zur Verurteilung einsitzenden Gefangenen zeigt, dass das tiefe Herz der Natur voll Mitgefühl und Freundlichkeit gegen sie sein könnte.[1] Der Autor pflückt hier an der Schwelle der Geschichte eine Blüte, die eine süße moralische Blüte symbolisieren soll, die sich vielleicht im Laufe der Geschichte findet, oder sich abhebt gegen deren düsteren Schluss. Diese Blume wird im Laufe der Geschichte mehrfach mit Pearl in Verbindung gebracht. An der Eingangstür des Gefängnisses beginnt die Geschichte. Die Türe öffnet sich und zunächst zeigt sich ein finsterer Büttel mit Zepter und Schwert, den Symbolen der Herrschaft, und danach Hester Prynne mit ihrem Baby, das sie Pearl nennt.

3. Der Puritanismus

Der gesellschaftliche Lebensraum, in dem die Geschichte spielt, ist durch den Puritanismus gekennzeichnet. Für die Puritaner sind Religion und Gesetz fast identisch. Deswegen unterscheiden sie in der Feierlichkeit oder in ihrem Ernst nicht zwischen der Bestrafung eines Mörders durch den Tod oder der Züchtigung eines trägen Dienstboten oder eines ungehorsamen Kindes. Jeder Gesetzesbruch hat - als eine Verletzung des Religiösen selbst - eine unerhörte Bedeutung. Ein Gesetzesbrecher, egal welches Gesetz gebrochen wurde, kann mit Teilnahme oder Mitgefühl kaum rechnen. Auch im Falle der Hester Prynne begafft die puritanische Menge die Delinquentin auf dem Pranger gnadenlos. Ihr ist es verboten, ihr Gesicht zu verbergen. Sie muss sich begaffen lassen. Diese Strafe geht nach Hawthorne gegen die menschliche Natur der Sünder und Sünderinnen, ihr Gesicht aus Scham zu verstecken. Die Strafe besteht für Hester Prynne darin, im Gegenteil aller Welt zeigen zu müssen, dass sie gesündigt hat, indem sie die Ehe brach. Sie muss sich drei Stunden lang einer ernsten, schweigenden und die allgemeine Verurteilung ihrer Tat zelebrierenden Menge des puritanischen Volkes stellen.

Hester Prynne hat Ehebruch begangen. Als sichtbares Zeichen dieses Ehebruchs trägt sie ein Kind auf ihrem Arm. Eigentlich steht auf das Verbrechen des Ehebruchs nach puritanischem Gesetz der Tod. Milde ist es, wenn die Ehebrecherin nur ein Brandzeichen auf die Stirne gedrückt erhält. Hester Prynne wird dazu verurteilt, für immer einen scharlachroten Buchstaben A (für adulteress) auf ihrem Kleid zu tragen, sich drei Stunden auf dem Pranger begaffen zu lassen und einige Tage in Haft zu verbringen. Die Strafe beginnt mit dem ernsten, schweigenden Gaffen der Puritaner, als sich Hester auf den Pranger stellt. Die Puritaner machen Hester Prynne mit diesem Buchstaben zum öffentlichen Symbol der Sünde, hinter welchem ihre Individualität verschwindet. (Dafür hat Hawthorne ein schönes Bild gefunden: Als Hester Prynne mit ihrer Tochter Pearl im Hause des Gouverneurs Bellingham ist, erscheint sie im Spiegelbild der blankgeputzten Parade-Rüstung des Gouverneurs so, dass das übergroß widergespiegelte scharlachrote A sie selbst im Bild fast zum Verschwinden bringt.)

Die Puritaner werden als hart, ernst und streng geschildert. Sie pflegen einen harten Umgang mit sich selbst und anderen. Andersgläubige werden für gewöhnlich öffentlich ausgepeitscht und aus der Stadt vertrieben. Ihre Kinder verprügeln die Puritaner regelmäßig mit der Rute, nicht nur, um sie zu strafen, sondern auch gewohnheitsmäßig, um sie zu bessern. So stehe es auch in der Bibel. Eine Initiative von Puritanern, der auch Gouverneur Bellingham sich tatkräftig anschließt, zielt darauf ab, die Seele Pearls zu retten, indem man sie der Mutter entreißt. Selbst wenn die Puritaner feiern und ausgelassen sind, erreichen sie bestenfalls die Stimmung eines ernsten Trauerfalls in einer anderen Gesellschaft. Die lustigste Zerrstreuung, welche die Puritaner sich auf ihrem Fest gönnen, sind öffentliche Kampfspiele (Ringen, Fechten etc.) Die Puritaner gehören zum unduldsamsten Geschlecht, das je gelebt hat.

Die von den Puritanern selbst unterdrückten Frauen und Kinder neigen dazu, mit besonderer Härte und Erbarmungslosigkeit auf der Umsetzung des Gesetzes zu beharren. So fordern ältere, geachtete Frauen die Todesstrafe oder wenigstens ein Brandzeichen auf Hesters Stirn. Der Magistrat urteile zu milde, womöglich weil die Schönheit Hester Prynnes ihn betäubt habe; schließlich seien das ja auch nur Männer. Die Frauen selbst seien ja wohl einig, dass hier die volle Härte des puritanischen Gesetzes Anwendung finden müsse. Ein Mann und eine jüngere Frau treten ihnen - letztlich ohne Erfolg - entgegen. Die Kinder spielen "In die Kirche gehen", oder "Quäker Peitschen", "Indianer Skalpieren" und "sich gegenseitig mit Hexerein Necken". Hawthorne fragt sich, ob man so etwas Spiele nennen kann. Sie isolieren Pearl und bewerfen sie mit Schmutz und Dreck. Sie verachten und schmähen alles, was irgendwie fremdartig oder einfach anders ist, im Besonderen Pearl und Hester Prynne.

Die Priester der Puritaner sind mit Ausnahme von Dimmesdale kommunikationsunfähig. Entweder haben sie sich zu lange mit uninteressanten theologischen Quisquilien beschäftigt, oder sie sind von hartem, gefühllosem und unzugänglichem Charakter, oder sie sind so heilig, dass ihnen das Leben der Menschen, die mit ihren Sünden zurecht kommen müssen, fremd wird. Mit den Menschen kommunizieren können sie alle nicht. Ein besonders beredtes Beispiel dafür ist Reverend John Wilson, ein intelligenter, sturer, wenig herzlicher und wenig mitfühlender Zeitgenosse. Er predigt Enthaltsamkeit, weiß aber für sich selbst die angenehmen Seiten, welche die Natur und seine Stellung in der Gesellschaft ihm gewähren, für seinen Genuss zu nutzen. Nach Hawthorne hat er kein Recht, sich in Fragen menschlicher Schuld zu mischen, weil ihm dafür das Verständnis fehlt. (Hawthorne vergleicht den Reverend Wilson mit altertümlichen Portraits in theologischen Folianten, die so verstaubt und veraltet dreinblicken, dass sie kein Recht haben, sich in Fragen menschlicher Schuld zu mischen.)

Die armen und notleidenden Puritaner weisen die Hilfe, die Hester Prynne ihnen in Form von Kleidung und Krankenpflege bringt, verachtungsvoll zurück. Obwohl Hester Prynne Dank dafür nicht erwartet und von selbst verschwindet, wenn sie nicht mehr gebraucht wird, muss sie sich beschimpfen lassen.

Das gesamte Bild, das von den Puritanern gezeichnet wird, ist düster und schrecklich. Es ist eine zutiefst unmenschliche Zivilisation. Ironisch lässt Hawthorne sich diese Zivilisation dadurch abheben von der sie umgebenden Natur, dass in der Stadt der Puritaner Unrecht ans Licht gebracht wird und bestraft wird. In Wahrheit aber, das zeigt der Roman, ist das Gegenteil der Fall. Die Härte der Strafen und die Unnachgiebigkeit und Unbarmherzigkeit der Puritaner, ihre Unfähigkeit Sünden zu vergeben, führt dazu, dass eine Doppelmoral Einzug hält. Hester Prynne, die durch ihren Scharlachroten Buchstaben, den zu tragen sie verurteilt ist, als Symbol der Sünde gekennzeichnet ist, hat eine unterirdische gefühlsmäßige Verbindung mit den inneren und sündigen Regungen der anderen Menschen. Sie erkennt instinktiv Sünder und Sünderinnen, die Vergleichbares getan haben. Es sind Geistliche und verdiente und öffentlich verehrte Männer darunter, ehrbare Matronen und junge Mädchen. Alle haben es verstanden, ihre Sünde geheim zu halten. Nur Hester Prynne nimmt - durch den Scharlachroten Buchstaben dem Reich der Sünde anheim gegeben - ihre innersten Gefühle unterirdisch wahr. Es ist also nicht eine Gesellschaft der Aufrichtigkeit und Wahrheit, sondern eine Gesellschaft der Doppelmoral und der Heuchelei, in der es darum geht, sündlos zu erscheinen, obwohl man es nicht ist. Selbstverständlich ist das nicht das Ziel des Puritanismus; aber es ist die notwendige Folge der Strenge, Unbarmherzigkeit und Unfähigkeit zu verzeihen, die diese Gesellschaft insgesamt charakterisiert. Es ist eine notwendige Folge des missverstandenen Christentums, das Gesetz und Religion fast als identisch auffasst, oder anders formuliert, die das Gesetz verabsolutiert. Hawthorne ist der Auffassung, dass er diese Entwicklung erst in ihrem Anfang schildert. Es wird nicht besser, sondern im Gegenteil schlimmer. "Ihre unmittelbare Nachkommenschaft, die nächste Generation nach den ersten Einwandern, hüllte sich in den schwärzesten Schatten des Puritanismus und verfinsterte damit das Antlitz der Nation auf solche Weise, dass alle späteren Jahre es nicht vermocht haben, es aufzuhellen."

Als Bild dafür kann auch die Tatsache aufgefasst werden, dass der - in Glaubensfragen sehr engagierte und sture - Gouverneur Bellingham eine Schwester hat, die Hexe ist. Das bedeutet: Er ist mit der ausgezeichneten Vertreterin des Bösen, die mit dem Teufel im Bunde ist und wenige Jahre später verbrannt wird, verwandtschaftlich und also untrennbar verbunden. Aber nicht nur das: Die Hexe Hibbins wohnt auch bei ihm zuhause. Der Mann, der die Geschicke von Massachusetts, damals noch Kolonie der englischen Krone, leitet und sich - aus Sorge um die Seele Pearls - in die Geschicke Hester Prynnes mischt, ist nicht einmal in der Lage, in seinem eigenen Haus für Rechtgläubigkeit zu sorgen. Er kann das deswegen nicht, weil sein Amt, die politische Herrschaft, mit dem Bösen zwingend und untrennbar verbunden ist. Bellingham, der Herrscher von Massachusetts, ist nicht einmal Herr im eigenen Haus. Überdies hält sich Bellingham als Diener einen Sklaven englischer Herkunft, der sich für sieben Jahre lang in die Schuldsklaverei verkaufen musste, um nun - wie ein jeder andere Gegenstand auch - gekauft und verkauft werden zu können.

Das Böse ist so als ein Moment der Herrschaft und der puritanischen Gesellschaft gekenn-zeichnet, die auf Heuchelei und Doppelmoral aufgebaut ist. Der gute Puritanismus ist aber seinem Selbstverständnis nach dem Bösen entgegengesetzt. Deswegen wird dieses Böse in die Umgebung verdrängt und führt im Wald ein Eigenleben, in welchem der Teufel, der schwarze Mann, mit seinen Hexen ein Buch führt, in das sich die Menschen beim Verkauf ihrer Seelen mit ihrem eigenen Blute eintragen. Die Verbindung zwischen der puritanischen Stadt und jenem schwarzen Mann im Wald ist die Hexe Hibbins, die Schwester des Gouverneurs.

Die Herrschaft ist mit einer dunklen Seite unmittelbar und notwendig verknüpft, die sie sich durch Heuchelei und Doppelmoral verbirgt, und die so im Wald zu einem völlig unkontrollierbaren Eigenleben kommt. Aber diese dunkle Seite hat ihre Herkunft in der puritanischen Stadt und äußert sich auch dort, nicht nur in der Bestrafung Hesters, sondern vor allem in dem Schicksal der männlichen Protagonisten, in dem von Roger Chillingworth (Roger "des Frierens wert") und von Arthur Dimmesdale (Arthur Dämmertal). Die Religion des Puritanismus ist in dieser Gesellschaft zu einem Herrschaftsmittel geworden. Sie verkehrt sich deswegen in ihr Gegenteil. Sie wird nicht zu einem Weg der Erlösung, sondern sie macht die Doppelmoral - und damit die Sünde - zu einer Notwendigkeit, deren Nichtbeachtung sogar lebensgefährlich wird. So wird die Heuchelei zu einer permanenten Eigenschaft derjenigen, die in der Stadt Boston leben und vor allem der männlichen Hauptpersonen im Roman.

Die Geschichte lässt sich deswegen am besten verstehen, wenn man sie aus dieser Heuchelei und Doppelmoral heraus versteht und das Verhältnis der wesentlichen Personen zu diesem Charakter ihrer Gesellschaft untersucht. Hester Prynne versucht, in dieser Welt der Heuchelei den Weg der Wahrheit zu gehen. Aber letztlich scheitert sie an ihrer Liebe zu Arthur Dimmesdale, den sie schonen will, so dass sie selbst in die Unwahrheit und Sünde zurückfällt. Letztlich geht sie in eine sündhafte Dunkelheit, indem sie ihre Wahrhaftigkeit der Liebe zu Arthur Dimmesdale opfert. Arthur Dimmesdale führt das perfekte doppelmoralische Leben. Er führt seine Sünde auf eine momentane Leidenschaft des Fleisches und des Körpers zurück. Er will seine Seele von der Sünde und der Pein des Leibes reinigen, um sie zu bewahren. Der Preis dafür ist ein armseliger Egoismus und eine schon fast erbarmungswürdige Unfähigkeit zu lieben. In Arthur Dimmesdale mischt sich das Licht des religiösen Mannes mit der jahrelangen Verdunkelung der sündigen Tat zu einem doppelmoralischen Dämmerlicht, dem er seinen Namen verdankt. Roger Chillingworth nutzt die Dunkelheit als die eine Seite der Doppelmoral für eine verdeckte Rache an Arthur Dimmesdale, die diesen immer härteren seelischen Qualen aussetzt. Roger Chillingworth ist in dieser Verbindung derjenige, der die Macht des Teufels exekutiert, obwohl er in der puritanischen Gesellschaft als ein frommer Mann erscheint. Seine Kälte, der er seinen - selbst gewählten - Namen verdankt, und seine Wissenschaft erlauben es ihm, die Nähe des Arztes zu seinem Patienten zu nutzen, um Arthur Dimmesdales überspanntes Gewissen zu reizen und so den doppelmoralischen Priester zu foltern. Pearl sucht als einzige bedingungslos die Wahrheit und das Licht. Sie fordert Arthur Dimmesdale unnachgiebig auf, sich auch am Tage zu ihr und Hester Prynne zu bekennen. Sie fordert von ihrer Mutter hartnäckig die Wahrheit über den Scharlachroten Buchstaben. Was Hester versucht, woran sie aber durch die Liebe zu Arthur Dimmesdale gehindert wird, das realisiert Pearl: Ein Leben in der Wahrheit und im Licht. Das ist aber im puritanischen Boston unmöglich. Sie verlässt daher Boston und Nordamerika und lebt in Europa. Die Vergebung der Sünden wird von Hawthorne ausdrücklich als möglich und als Weg zur Befreiung von diesem Schicksal dargestellt. Es gelingt den handelnden Personen jedoch nicht, diesen Weg zu gehen.

4. Arthur Dimmesdale

Arthur Dimmesdale genießt den Ruf eines hochbegabten, hochsensiblen Pastors, der als einziger in der Lage ist, mit den Menschen in der Kirche wirklich zu kommunizieren. Er ist in Oxford ausgebildet worden und dann nach Amerika gekommen. Er ist ein konservativer Christ puritanischer Prägung mit einem regen Geist, der nach Anregung sucht. Seine Anerkennung in der Gemeinde und in der Kirche überhaupt steigt und steigt während des gesamten Romans. Er wird mit Aposteln verglichen und mehrfach als aus der Sicht der Puritaner heilig bezeichnet. Er ist der Schwarm der Mädchen seiner Gemeinde, die ihn anhimmeln. Alte Gemeindemitglieder wollen an seiner Heiligkeit partizipieren, indem sie möglichst neben seinem Grab beerdigt sein wollen. Für die Puritaner ist Arthur Dimmesdale ein religiöser Held. Arthur Dimmesdale wirkt vor allem durch seine Stimme, weniger durch das, was er sagt. Seine Stimme klingt bebend, aber auch lieblich, einfühlsam und schön. Sie wirkt durch ihren traurigen Unterton wie der Schrei der leidenden Menschheit.

Andererseits ist Arthur Dimmesdale ein melancholisch dreinblickender einsamer Mann, der in ausgedehnten Spaziergängen die Kraft schöpft, die er für sein Wirken in der Kirche braucht. Er wirkt wie jemand, der sich auf der Erde verirrt hat. Er muss sich sehr zusammenreißen. Er ist nervös und leidenschaftlich, oder er hat eine starke animalische Natur, wie Roger Chillingworth feststellt. Diese Selbstbeherrschung (in einem negativen Sinne, als Internalisierung der puritanischen Moralprinzipien verstanden) scheint fast absolut zu sein. Er macht Nachtwachen und fastet, um zu Gott zu finden. Er hat eine schwache körperliche Konstitution, die während des Romans mehr und mehr ausgezehrt wird, so dass er immer bleicher und nervöser wirkt. Durch seine frommen Exerzitien schwächt er seinen ohnehin nicht starken Körper noch mehr. Seine im Roman immer stärker hervortretende typische Geste ist es, die Hand auf sein Herz zu legen.

Arthur Dimmesdale ist der Inbegriff der puritanischen Doppelmoral. Schon sein erster Auftritt im Buch ist von dieser Doppelmoral gekennzeichnet. Er spricht von sich sehr oft in der dritten Person, selbst als er am Schluss seine Sünde gesteht. Bei seinem ersten Auftritt wendet er sich an Hester Prynne mit der Aufforderung, den Vater des Kindes zu nennen, obwohl er selbst der Vater ist. Er bittet sie, den Vater der gerechten Bestrafung um dessen Seelenheil willen nicht zu entziehen. Zur Entschuldigung könnte angeführt, dass er das nur auf Aufforderung von Reverend Wilson tut.

Aber diese Entschuldigung vergeht schnell. Denn die wichtigste Auswirkung der Doppelmoral ist eine Lähmung. Arthur Dimmesdale handelt mit einer Ausnahme immer nur auf fremde Aufforderung oder unbemerkt im Dunklen. In seinem zweiten Auftritt spricht er auf Bitten von Hester Prynne. Als Gouverneur Bellingham und Reverend John Wilson Hester Prynne ihr Kind wegnehmen wollen, tritt er - auf ihre Aufforderung hin - für sie ein. Er spricht gut und überzeugend. Die Herrschaften lassen auf seine Fürsprache hin von dem Plan ab. Auf Druck der Gemeinde begibt sich Arthur Dimmesdale in die Behandlung von Roger Chillingworth. Derselbe Druck führt schließlich dazu, dass er mit Roger Chillingworth in ein Haus zieht. Als er zu handeln beginnt, geschieht das im Dunkeln oder im Privaten, wenn es niemand merkt. So hat er sich mit Hester Prynne geliebt, so stellt er sich in der Nacht auf den Pranger und spielt Reue. Der Plan der Flucht wird von Hester Prynne entwickelt und vorbereitet. Das Gewese, dass um Arthur Dimmesdale gemacht wird, verdeckt, dass er nie aus eigenem Antrieb und aus eigener Verantwortung handelt. Arthur Dimmesdale ist durch die Doppelmoral gelähmt.[2] Daher kann diese Form der Entschuldigung nicht gelten, weil sie selbst ein Ausdruck der Befangenheit in der Doppelmoral ist. Diese Lähmung kommt auch im zunehmenden körperlichen Verfall und allgemeiner Schwäche zum Ausdruck. Sie äußert sich in einer ebenfalls zunehmenden Verunsicherung. So fürchtet er, dass die Gesichtszüge Pearls den seinen so ähnlich werden könnten, dass er gewissermaßen von der Natur verraten wird. Immer wenn Arthur Dimmesdale mit Ereignissen konfrontiert ist, die ihn verunsichern, legt er seine Hand auf sein Herz. Diese Geste tritt im Laufe des Romans immer öfter auf. Auch emotional tritt diese Lähmung in Erscheinung, denn Arthur Dimmesdale - der ein sicheres Gefühl hat, dass Roger Chillingworth ihm schadet - kann trotzdem in ihm seinen Feind nicht erkennen, weil er - wie Hawthorne ausdrücklich feststellt - vereinsamt ist und keine Freunde hat.

Arthur Dimmesdale setzt sich mit seiner Lähmung auseinander, indem er Leib und Seele trennt. Den Leib gibt er der sündigen Welt preis und versucht ihn zu bestrafen, um seine Seele zu retten, mit der er Gott dienen will. Als sehr leidenschaftlicher Mensch muss er sich "zusammenreißen". Er versucht seine Leidenschaften und Triebe nicht in dem Sinne zu beherrschen, dass er ihnen Raum zur Entfaltung verschafft, sondern indem er sie zu unterdrücken versucht. In seiner Fähigkeit dieser Form der Beherrschung seiner selbst, hat er es zu einer gewissen Perfektion gebracht, die es ihm ermöglicht, Roger Chillingworth lange Widerstand zu leisten. Durch diese Form der Selbstbeherrschung ist er aber nicht in der Lage, seine Triebhaftigkeit zu überwinden. Er muss sie abzutöten versuchen, d.h. er befriedigt sie dadurch, dass er sie in aggressiven Aktionen gegen sich selbst wendet. Er kasteit sich, macht Nachtwachen, peitscht sich und quält sich auf die verschiedensten Weisen. Er wird also auch durch seine eigenen Aktionen immer kränker und schwächer.

Aber trennt nicht nur in seinem Leben den Körper vom Geist, sondern er vertritt das auch als richtig gegen Roger Chillingworth. Letzterer behauptet, dass es nicht möglich sei, die Krankheit Arthur Dimmesdales zu heilen, wenn dieser ihm nicht die seelische Ursache des Leidens nenne. Aber für Arthur Dimmesdale gibt es nur einen Arzt für seelisches Leiden, und das ist Gott. Der menschliche Arzt kann sich nur mit körperlichen Leiden beschäftigen. Gott allein kennt die Seele des Menschen, und nur er kann die Seele heilen. Am Jüngsten Gericht wird die sündige Seele sich gerne vor Gott entblößen und ihre Sünden gestehen, aber nicht hier und nicht vor einem irdischen Arzt. Denn der Sünder mag - obwohl sündig - Gott weiter dienen können, wenn er seine Sünde für sich behält und der Gemeinde als ein leuchtendes Vorbild erhalten bleibt, das den Weg zu Gott weist. Mit Recht stellt Roger Chillingworth fest, dass das Selbstbetrug ist. So sind auch die geistigen Fähigkeiten Arthur Dimmesdales durch die Doppelmoral in Mitleidenschaft gezogen. Er theoretisiert und legitimiert mit solchen Argumentationen seine Doppelmoral. Er trennt Leib und Seele auch mit Bewusstsein, und verunmöglicht sich so den Gedanken, selbst zu handeln. Denn im Handeln würden Leib und Seele zu einer wirklichen Einheit.

Arthur Dimmesdale weiß, dass er seine Sünden bekennen müsste. Abstrakt redet er auch auf der Kanzel darüber, dass er ein Sünder sei. Die Gemeinde aber sieht - wie er weiß und hofft - darin nur eine rhetorische Figur in der Predigt, und nimmt das Bekenntnis nicht ernst. Arthur Dimmesdale kann die Sünde nicht gestehen, weil er mit der Todesstrafe rechnen muss. Er hat Angst. Als alle Selbstpeinigung nichts hilft, tritt er während der Wache in einer stockfinsteren Nacht im vollen Ornat auf den Pranger. Aber auch das bleibt unbemerkt. Als Hester Prynne und Pearl vorbeikommen, bittet Arthur Dimmesdale sie, mit zu ihm auf den Pranger zu kommen. Er fasst Ihre Hände. Pearl fragt, ob Arthur Dimmesdale auch am Tage sie und Hester Prynne an die Hand nehmen werde. Doch Arthur Dimmesdale verweist auf das jüngste Gericht. Vor Gott werden die drei in Sünde vereint stehen, auf der Erde nicht. Ein heller Meteor unterbricht die Szene, die so allgemein sichtbar wäre, wenn die Allgemeinheit Notiz davon nehmen würde. Anwesend ist aber nur Roger Chillingworth, der Arthur Dimmesdale nach Hause begleitet. Am nächsten Tag wird deutlich, dass der Meteor ein Licht am Himmel erscheinen ließ, das einem großen A gleicht, wohl - wie sich die Puritaner erzählen - als Zeichen dafür, dass der - in dieser Nacht gestorbene - Gouverneur Winthrop von Gott als Engel (A = Angel) in den Himmel aufgenommen worden ist.

Hester Prynne ist erschüttert über den moralischen Verfall Arthur Dimmesdales. Sie teilt Roger Chillingworth mit, dass sie Arthur Dimmesdale seine Identität enthüllen wird. Im Wald fängt Hester Prynne Arthur Dimmesdale ab. Sie erklärt ihm die wahre Identität des Roger Chillingworth. Mit Mühe kann Arthur Dimmesdale Hester Prynne verzeihen, dass sie ihm nicht früher Bescheid gesagt hat. Aber was tun? Arthur Dimmesdale ist schwach und bittet Hester Prynne, für ihn zu denken, für ihn zu entscheiden, für ihn zu handeln. An dieser Stelle erkennt Arthur Dimmesdales seine Handlungsunfähigkeit und spricht sie selbst aus. Er weiß nicht mehr ein noch aus. Daher wendet er sich - fast wie ein kleines Kind - an Hester Prynne. Sie schlägt vor, gemeinsam zu fliehen. Arthur Dimmesdale stimmt in seiner Verzweiflung zu. Er, der bislang nur aus Leidenschaft gesündigt zu haben meinte, stimmt einem Plan zu, der eine vorsätzliche Sünde bedeutet. Arthur Dimmesdale sieht seine Verfehlung mit Hester Prynne als eine Verirrung seiner Leidenschaft an. Nun aber gibt er einer vorsätzlichen, geplanten Sünde nach.

Hester Prynne legt den Buchstaben und die Haube ab und erstrahlt im Glanz einer liebenden Frau. Während die bisherige Begegnung im düsteren Wald stattgefunden hat, stellt sich nun, da die Perspektive einer gemeinsamen Flucht vor beiden steht, Licht ein. Hester Prynne meint, dass Arthur Dimmesdale und Pearl, seine Tochter, sich kennen und lieben lernen sollten. Aber dieser Plan scheitert, weil Pearl darin, dass Hester Prynne den Buchstaben abgelegt hat, einen Verrat an ihr, ihrer Tochter, sieht. Zudem ist Arthur Dimmesdale wieder nicht bereit, sich öffentlich zu Pearl zu bekennen. Man verabredet die Flucht in vier Tagen.

In diesem Moment zeigt sich erneut die Unfähigkeit von Arthur Dimmesdale, eindeutig zu handeln: Er ist froh, dass es noch so lange dauert. Denn einen Tag vor der Flucht wird der sogenannte "Election Day" gefeiert, der Tag, an dem der neue Gouverneur in sein Amt eingeführt wird, der Tag, an dem die Herrschaft sich feiert. Arthur Dimmesdale hat die Ehre, die Predigt zu diesem Tag zu halten. Diese Ehre ist ihm wichtig. Daher ist er froh ist, dass die Flucht später stattfinden soll. Arthur Dimmesdale ist unfähig, die Maßstäbe, die in Boston gelten, hinter sich zu lassen. Er sieht in dem Plan zur Flucht nicht eine Abkehr von der Doppelmoral, sondern ihre Bestätigung, und das mit Recht. Hester Prynne organisiert die Flucht. Arthur Dimmesdale selbst beschäftigt sich mit der Predigt, die er am "Election Day" zu halten hat.

Der Plan zur Flucht mobilisiert noch einmal die dunklen, leiblichen Energien, die schon getötet zu sein schienen. Auf dem Weg nach Hause kann sich Arthur Dimmesdale nur mit Mühe zurückhalten, sich gegenüber verschiedenen Gemeindemitgliedern unfromm und unfreundlich zu verhalten. Mit einem Matrosen möchte er Flüche und schmutzige Witze wechseln. Kurz: Arthur Dimmesdale hat neue Kraft gewonnen, aber diese Energie will nicht recht zu seiner religiösen Einstellung passen. In dieser Stimmung erarbeitet Arthur Dimmesdale seine Predigt neu.

Der "Election Day" kommt. Die ganze Stadt, einige Weiße aus dem Umfeld, Indianer und die Matrosen des Schiffes, mit dem Hester Prynne und Arthur Dimmesdale fliehen wollen, wohnen dem Fest bei. Arthur Dimmesdale hat einen wesentlichen Ort in der Prozession inne. Er würdigt Hester Prynne keines Blickes, als er in der Prozession an ihr vorbeizieht. Er spricht mit allen Registern und aller Gewalt seiner Stimme. Sein Thema ist die Gottheit und die menschliche Gesellschaft mit besonderer Beziehung auf Neuengland. Was er sagt, erfährt man nicht, aber die Gemeinde ist begeistert und ist erfüllt von der Heiligkeit des Predigers. Sie fühlt sich geeint in ihrem Glauben und schreit spontan ihre Zustimmung dem Priester entgegen, als der bleich und erschöpft - sich mühsam auf den Beinen haltend - aus der Kirche kommt. Arthur Dimmesdale ergreift er die Hand von Hester Prynne und Pearl und geht mit ihnen - gestützt auf Hester, wie in seinem ganzen im Roman beschriebenen Leben - auf den Pranger. Er bekennt sich als "einziger" Sünder und zeigt sein Mal auf der Brust, einen roten Buchstaben A. Er nutzt sein Bekenntnis der Sünde nicht zu einer wirklichen Verbindung mit Hester Prynne, sondern bekennt sich als einziger Sünder. Wie er im ganzen Leben Hester Prynne gemieden hat, vermeidet er auch jetzt, eine Verbindung mit Hester Prynne herzustellen. Er bleibt auch in dieser Szene ein Egoist, der zu keiner Nähe zu einem anderen Menschen fähig ist.

Anschließend stirbt er. Er verabschiedet sich von Roger Chillingworth, von Pearl und von Hester Prynne. Während er Pearl als sein Kind voll akzeptiert, so dass das Kind teils vor Glück, teils vor Trauer weint, gestaltet er seinen Abschied von Hester Prynne mit Ermahnungen, dass sie ihre Sünde nicht vergessen solle. Er äußert nicht - wie Hester Prynne - den Wunsch, im ewigen Leben mit Hester Prynne in Freuden verbunden zu sein. Schon gar nicht deutet er die Gewissheit an, dass Gott die Sünden vergeben werde. Im Gegenteil charakterisiert er ihre Hoffnung als vergeblich. Er weist darauf hin, dass Gott gnädig ist, wie sich an seinem - Arthur Dimmesdales - Schicksal und Tod sich zeige. Er sagt zu Hester Prynne: Gott weiß es, ob er dir vergibt. Denk du an deine Sünde und lass es damit genug sein. Arthur Dimmesdale lässt Hester Prynne wie im Leben, so auch im Tod alleine. Er sinniert über seine besondere Rolle und Gottes Anstalten, um seine Seele zu retten. Er verabschiedet sich nicht als ein Liebhaber, sondern als Pfarrer.

Arthur Dimmesdale hat Angst vor dem puritanischen System, das er selbst vertritt. Dieses System verurteilt ihn wegen seiner Beteiligung am Ehebruch zum Tod. Durch seine Sünde und seine Reaktion auf sie, seine Flucht in die Doppelmoral ist Arthur Dimmesdale körperlich geschwächt und als Handelnder gelähmt. Er wird emotional stumpf und geistig beschränkt. Er handelt nur, wenn er dazu aufgefordert wird, oder er handelt so, dass es keiner merkt, in einer vorgestellten oder verdunkelten Welt. In der wirklichen Welt des Tageslichts haben seine Äußerungen eine sonderbare und ironische Doppeldeutigkeit. Er spricht in der Regel von sich selbst in der dritten Person. Er trennt zwischen Seele und Leib. Er quält seinen Leib mit allen Mitteln, um seine Seele zu retten. Aus dieser Lähmung wird Arthur Dimmesdale befreit, nachdem er mit Hester Prynne die Flucht vereinbart hat. Aber diese Energie verschärft auch die Doppelmoral. Mit dieser Energie schreibt er die Predigt seines Lebens. Denn beide Seiten dieser Doppelmoral stehen jetzt in ihm nebeneinander, wenn auch unverbunden. Beide Seiten sind auch im öffentlichen Leben bei der Feier des "Election Day" nebeneinander vertreten. (Auf der einen Seite die puritanischen Bürger, auf der anderen Seite die Leute aus dem Wald, die Indianer und die Matrosen von dem Seeräuber-Schiff.) So sieht sich die Gemeinde durch diese doppelmoralische Energie vertreten, ausgesprochen und vereint. Arthur Dimmesdale stellt an sich selbst den Gegensatz dar, an dem die puritanische Gesellschaft leidet, und vermag deswegen das Volk zu einen. Diese Doppelmoral ist die herrschende puritanische Linie, deren Repräsentant Arthur Dimmesdale ist. An dem Tag, an dem die Herrschaft sich feiert, am "Election Day" bekennt er sich des Ehebruchs schuldig - aber als "einziger" Sünder - und stirbt. Für ihn selbst ist seine eigene Seele das einzige, was zählt. Er ist von einem armseiligen Egoismus gepeinigt, der es ihm auch im Angesicht des Todes nicht erlaubt, sich mit Hester Prynne zu verbinden. Seine Sünde sieben Jahre geheim gehalten zu haben, darin sieht er seine Hauptsünde. Aber vielleicht ist es eine noch gravierendere Sünde, mit der Frau, die ihn liebte, bloß aus Leidenschaft geschlafen zu haben, ihre Gefühle ignoriert und sie nur benutzt zu haben. Arthur Dimmesdale ist, wie zur Handlung, so auch zur Liebe unfähig. Während er aber ersteres im Tod überwindet, gelingt ihm das bei der Liebe auch da nicht. Nur seine Tochter Pearl vermag er zu lieben, weil er sich in ihr erkennt. Von Hester Prynne verabschiedet er sich als Pfarrer, nicht als Liebender. Er ist - wie Pearl sich zurecht ausdrückt - "ein trübseliger, trauriger und sonderbarer Mann".

5. Roger Chillingworth

Der spätere Roger Chillingworth ist der Ehemann von Hester Prynne. Prynne hat sie, deutlich älter als Hester Prynne, schon in England geheiratet, um im Alter versorgt zu sein. Schon damals hatte er sein Leben der Wissenschaft geweiht. Er geht mit Hester nach Amsterdam und schickt sie dann mit den Siedlern vor nach Boston. Als er nachkommen will, gerät er in Wirrnisse und wird 2 Jahre lang von den Indianer festgehalten. Erst als Hester Prynne als verurteilte Ehebrecherin am Pranger steht, gelingt es auch Prynne, in Boston einzutreffen, weil die Indianer Lösegeld für ihn erzielen wollen. Er ist leicht verwachsen, hat eine etwas schiefe Schulter, und ist eine etwas hässliche Erscheinung, deren Hässlichkeit im Verlauf des Romans erschreckend zunimmt.

Prynne ist ein Gelehrter mit einem unabgeschlossenen Medizinstudium. Er ist ein echter Bücherwurm mit leicht verwachsener Schulter. Er hat sich der Wissenschaft verschrieben, eine Forschernatur. Er ist von kaltem Interesse an allem. Daher auch sein - selbst gewählter - Name Roger Chillingworth ("des Fröstelns wert"). Er verbreitet Kälte um sich. Er beschäftigt sich zumeist mit sich selbst. Sein Blick ist nach innen gerichtet. Wenn er aber auf Äußeres guckt, dann will er in das Wesen der Sache dringen. Er hat einen eindringlichen Blick, der die Seele zu erforschen scheint. Im Sinne dieser Forscherhaltung ist er ein sensibler und einfühlsamer Mensch, der diese Fähigkeit jedoch nicht mit Mitgefühl zu verbinden in der Lage ist. Er ist distanziert, kultiviert und selbstbeherrscht. Er tritt als frommer und ehrbarer Bürger der puritanischen Gemeinde auf, als er sich in Boston etabliert hat.

Als er Hester Prynne am Pranger stehen sieht, macht er sofort ein Zeichen, dass sie ihre Verbindung verschweigen soll. Er wendet sich an einen Puritaner mit der Frage, was das Schauspiel zu bedeuten habe. Der Mann erklärt ihm die Geschichte, soweit er sie kennt, nachdem er ihn beglückwünscht hat, dass er jetzt wieder in der Zivilisation sei, wo Verbrechen aufgeklärt und bestraft würden. Da der Vater nicht bekannt ist, beschließt Prynne, die Erforschung selbst in die Hand zu nehmen.

Sein erster Schritt besteht darin, seine Identität zu verschleiern und den Namen Roger Chillingworth anzunehmen. Er agiert also von Anfang an verdeckt. Der zweite Schritt ist, sich an Hester Prynne zu wenden. Er trifft sie im Gefängnis alleine. Zunächst kuriert das Kind und seine Mutter. Dann fordert von ihr den Namen des Liebhabers. Es sei ein Fehler gewesen, dass er als alter Mann sie, ein junges Mädchen, geheiratet habe, zumal sie ihn nicht geliebt hat und ihm das auch gesagt hat. Hester Prynne und Roger Chillingworth sind also miteinander quitt. Aber der Liebhaber, der die Ehre Roger Chillingworths so schwer verletzt hat, muss büßen. Doch Hester Prynne verrät den Namen nicht. Wie Wilson kein Recht hatte, den Namen des Liebhaber zu erfahren, weil ihm dazu das menschliche Mitgefühl fehlte, so auch Roger Chillingworth, der offenbar nur Rache im Sinn hat. Im Gegenzug nimmt Roger Chillingworth ihr das Versprechen ab, seine Identität als ihr Ehemann ebenso zu verheimlichen wie die Identität ihres Geliebten. Hester Prynne schwört, seine Identität geheim zu halten, teils aus Verbundenheit mit ihrem Ehemann, teils aus Angst davor, dass er Arthur Dimmesdale ans Messer liefern würde, wenn er ihn gefunden hätte. Wie der Liebhaber die Verdecktheit und Verdunkelung nutzt, um seine Sünde zu verdecken, nutzt Roger Chillingworth die Verdecktheit, um ihn zu finden. Er agiert jedoch nicht aus Angst, sondern aus Vorsatz im Dunkeln, um sich zu rächen.

Roger Chillingworth lässt sich als - geachteter - Heiler in Boston nieder und befreundet sich mit Arthur Dimmesdale. Mit Interesse bemerkt Roger Chillingworth, wie sehr sich Arthur Dimmesdale für das Wohl von Hester Prynne und Pearl einsetzt und wie Pearl und Arthur Dimmesdale einander liebevoll begegnen. Die Gesundheit Arthur Dimmesdales verfällt zunehmend. Auf Druck der Gemeinde begibt sich Arthur Dimmesdale bei Roger Chillingworth Behandlung. Beide ziehen sogar in dasselbe Haus. Die Privatheit des Kontakt und des Zusammenwohnens nutzt Roger Chillingworth dazu aus, die Seele des Predigers zu durchwühlen. Er versucht, die seelische Wunde des Arthur Dimmesdale zu entschlüsseln, was ihm nach langer Zeit auch gelingt, obwohl Arthur Dimmesdale ihm hartnäckig Widerstand leistet. Roger Chillingworth sieht eine unmittelbare Einheit zwischen Seele und Leib. Er geht davon aus, dass Arthur Dimmesdale etwas vertuscht, und versucht es aufzudecken. Immer wieder berührt Roger Chillingworth die seelische Wunde seines Patienten und angeblichen "Freundes". Er fordert ihn indirekt auf, seine Sünde zu bekennen. Aber er tut das nicht, um die Heilung des Sünders zu erreichen, sondern um seine Rache intensiver betreiben zu können. Er will nicht, dass Arthur Dimmesdale öffentlich bekennt, sondern ihm, dem Arzt, seine Sünde offenbart. Schließlich entdeckt Roger Chillingworth das Mal auf der Brust des Arthur Dimmesdale und hat nun den Beweis, dass Arthur Dimmesdale der Vater von Pearl ist.

Nun verändert sich sein Charakter. Die kalte Forscherhaltung verschwindet mehr und mehr. Die böse Energie der Rache des tief verletzten Roger Chillingworth tritt immer entschiedener in den Vordergrund. Der Unterschied zwischen der Rache und der Strafe ist, dass die Strafe die Sünde durch die öffentliche Buße und Strafe heilt, während die Rache von Roger Chillingworth darin besteht, die Sünde zu kennen und zur fortgesetzten Folter seines Opfers zu nutzen. Rache heilt nicht. Deswegen ist sie illegitim und scheut das Licht der Öffentlichkeit ebenso wie der Sünder. Schließlich wird Roger Chillingworth endgültig zum Racheengel, zum Satan.

Als Arthur Dimmesdale sich - nach sieben Jahren - mit Hester Prynne und Pearl in einer stockdunklen Nacht auf den Pranger stellt, um Reue zu spielen, kommt Roger Chillingworth vorbei, entdeckt ihn und bringt ihn nach Hause. Hester Prynne stellt Roger Chillingworth zur Rede und bittet ihn, Arthur Dimmesdale zu vergeben. Aber dazu kann sich Roger Chillingworth nicht entschließen. An dieser Stelle ist der Punkt, an dem der Roman durch Vergebung der Sünden eine andere Richtung nehmen kann. Aber Roger Chillingworth ist bereits zum Satan geworden. Eine Vergebung der Sünde von Arthur Dimmesdale ist ihm nicht möglich. Seine Rache ist sein einziger verbliebener Lebensinhalt geworden. Hester Prynne teilt ihm mit, dass sie sich an ihren Eid nicht mehr gebunden fühlt und die Identität Roger Chillingworths an Arthur Dimmesdale verraten wird. Roger Chillingworth nimmt es zur Kenntnis und kriecht davon. Jederzeit scheint sich unter ihm die Erde öffnen zu können, um ihn, der zur Hölle fährt, aufzunehmen.

Roger Chillingworth erfährt von dem Fluchtplan von Hester Prynne und Arthur Dimmesdale und beschließt, sich den Fliehenden anzuschließen, sie zu verfolgen. Er schifft sich in dasselbe Boot ein und lässt dies durch den Kapitän des Schiffs Hester Prynne mitteilen. Als Arthur Dimmesdale sich der Flucht durch sein Bekenntnis und seinen Tod am Pranger entziehen will, stellt sich Roger Chillingworth ihm ohne Erfolg entgegen. Erst als dies nichts hilft, folgt er Arthur Dimmesdale auf das Podest und sagt immer wieder: "Du bist mir entronnen." Der öffentlich betretene Pranger ist der einzige Ort, an dem Arthur Dimmesdale ihm entkommen konnte, das öffentliche Bekenntnis die einzige Tat, mit der Arthur Dimmesdale sich der Rache des Roger Chillingworth zu entziehen in der Lage ist. Ein Jahr nach dem Tod Dimmesdales stirbt auch Roger Chillingworth und hinterlässt sein nicht unerhebliches Vermögen Pearl, der Tochter von Hester Prynne.

Roger Chillingworth nutzt die Doppelmoral des Arthur Dimmesdale, um sich systematisch an ihm zu rächen. Im Verborgenen und unter dem Schein eines ehrbaren und frommen Bürgers und wohlmeinenden Arztes und Freundes quält Roger Chillingworth sein Opfer systematisch, indem er immer wieder die Stelle berührt, die Arthur Dimmesdale quält und von der er sich nicht befreien kann. Deswegen handelt Roger Chillingworth in der Sphäre des Privaten. An einem öffentlichen Bekenntnis von Arthur Dimmesdale ist ihm nicht gelegen. Zur Vergebung der Sünde ist Roger Chillingworth nicht in der Lage. Zu tief sitzt die Verletzung seiner Ehre. Sie zu fühlen und zu rächen ist sein einziger Lebensinhalt. So wird er, ein eindringender, intellektuell hochbegabter und sensibler Mann, der kultiviert ist, aus einem kalten Forscher und Wissenschaftler zum Teufel, der in der Dunkelheit der verborgenen Sünde seine Rachemechanismen gnadenlos und erbarmungslos an Arthur Dimmesdale durchexerziert. Er ist - wie Pearl mit Recht feststellt - "der schwarze Mann".

6. Hester Prynne

Hester Prynne ist eine schöne, selbstbewusste Frau mit fast schwarzen wallenden Haaren, die wie eine Lady auftritt. Sie stammt aus England. Dort hatte sie den - schon älteren - gelehrten Prynne geheiratet, obwohl sie ihn nicht liebte. Das hatte sie ihm auch vor der Hochzeit mitgeteilt. Mit den Siedlern ist sie ohne ihren Ehemann nach Boston gekommen. Prynne wollte nachkommen, blieb aber noch zwei Jahre aus. In diesen zwei Jahren verliebte sich Hester Prynne in Arthur Dimmesdale, von dem sie auch schwanger wird. Zur Strafe wird sie dazu verurteilt, ihr Leben lang den Buchstaben A (A wie adulteress, aber auch A wie Arthur) zu tragen. Den scharlachroten Buchstaben näht sie sich selbst sehr kunstvoll. Zuerst muss sie sich mit diesem Buchstaben drei Stunden auf dem Schafott zeigen. Als der Büttel sie aus dem Gefängnis zerren will, reißt sie sich los und geht selbst über die Schwelle, ihr Kind Pearl im Arm. Dieses Selbstbewusstsein zeigt sie während des ganzen Romans. Was ihr zustößt und sie als eine notwendige Folge ihrer Tat begreift, das tut sie selbst. Sie ist tatkräftig und schon insofern eine literarische Gegenfigur zu dem völlig gelähmten Arthur Dimmesdale.

Sie hat Mut. So verweigert sie auf die Frage nach dem Vater ihrer Tochter trotz enormen öffentlichen Drucks jede Auskunft. Sie konzentriert ihre Kraft darauf, sich gegen diesen Druck empfindungslos zu machen und denkt an ihre Kindheit. Bewundernd, aber wohl auch beruhigt stellt Arthur Dimmesdale die Standfestigkeit Hester Prynnes fest. Ironischer Weise stellt die Menge, die ihre Verurteilung zelebriert, zugleich einen Schutz vor Prynne dar. Aber auch in der Begegnung zwischen den zweien in der Gefängniszelle widersteht sie seinem Druck. Auch Prynne will die Identität des Liebhabers erfahren. Sie gibt ihn nicht preis. Im Gegenzug verlangt Prynne, dass Hester Prynne auch ihr Verhältnis zu ihm geheim hält. Sie schwört aus Angst um Arthur Dimmesdale.

Die Selbständigkeit und das Selbstbewusstsein Hester Prynnes zeigt sich dann auch, als sie aus dem Gefängnis entlassen wird. Sie akzeptiert, dass sie gesündigt hat und tut Buße. Sie zieht mit ihrer Tochter Pearl, ihrem einzigen verbliebenen Schatz, für den sie alle anderen Verbindungen mit den Menschen preisgegeben hat, in ein Cottage außerhalb Bostons. Sie lebt davon, dass sie für die reichen und vornehmen, mit Ämtern betrauten Puritaner Kleidung und Schmuck näht. Der Scharlachrote Buchstabe verwandelt sich in einen Werbeträger für ihre Kunst. Nur Hochzeitskleidung kann sie nicht verkaufen. Denn Hester Prynne ist in Boston das Symbol der Sünde. Sie ist der Gegenstand moralischer Ermahnungen der Puritaner untereinander in der Kirche und auf der Straße. Sie und ihr scharlachroter Buchstabe werden weiterhin begafft in Boston. Sie spürt die verurteilenden Blicke auf ihrer Brust als ein Brennen des Buchstaben. Sie bleibt isoliert in Boston, ohne Freunde und Bekannte. Aber sie hält auch selbst Distanz. Wird sie angesprochen, so zeigt sie schweigend auf den Scharlachroten Buchstaben. Aber trotz ihrer Isolation in Boston gibt es doch zwei Verbindungen zwischen ihr und den Bürgern von Boston. Um Buße zu tun, hilft Hester Prynne als Krankenschwester. Ist die Not da, erscheint sie von selbst; ist die Not weg, verschwindet sie von selbst. Dank erwartet sie nicht. Sie hilft auch den Armen mit Kleidern, die sie ihnen näht und als Almosen schenkt. Ihr überzähliges Geld verwendet sie für Hilfeleistungen für Bedürftige. Nicht selten beschimpfen die Armen sie im Gegenzug und weigern sich das Almosen der Sünderin anzunehmen. Aber neben dieser am Tage liegenden Verbindung gibt es noch eine zweite, unterirdische. Als Symbol der Sünde entwickelt Hester Prynne ein Gespür für andere Sünder und Sünderinnen, die ihre Sünden geheim zu halten gewusst haben, darunter ehrbare Männer und Matronen. Sie hat einen instinktiven Zugang zur dunklen Seite der Doppelmoral.

Ein weiteres Beispiel für Hesters Mut und Tatkraft ist ihr Auftritt im Hause Bellingham. Als Pearl drei Jahre alt ist, ergreift Bellingham mit einigen anderen Puritanern eine Initiative, um der Mutter das Kind wegzunehmen. Hester Prynne geht mit Pearl in die Höhle des Löwen und stellt sich Bellingham. Von seinem Diener wird sie eingelassen, weil er den scharlachroten Buchstaben für ein Zeichen vornehmer Abkunft hält. Als Pearl im Katechismus-Test durchfällt, fordert Hester Prynne Arthur Dimmesdale auf, für sie einzutreten, was der mit Erfolg tut. Das Kind bleibt bei Hester Prynne und auch die Frage der Vaterschaft wird von Reverend Wilson zu den Akten gelegt.

So erreicht Hester Prynne über die - insgesamt sieben - Jahre mehr und mehr den Respekt der Puritaner. Die Distanz zur puritanischen Gesellschaft bleibt aber bestehen. Nur selten spürt sie den verständnisvollen und mitfühlenden Blick von Arthur Dimmesdale auf sich ruhen, der aber jeden Kontakt mit ihr vermeidet. Mit der Zeit entwickelt sich eine neue Stimmung gegenüber Hester Prynne in der puritanischen Gesellschaft. Das Volk ist bereit ihr zu vergeben. Es interpretiert den scharlachroten Buchstaben um. Er soll nicht mehr für die Ehebrecherin stehen, sondern "besonders fähig und tüchtig" bedeuten (A wie "able"). Auch der Magistrat diskutiert die Frage, ob Hester Prynne nicht das Recht erhalten sollte, den Buchstaben abzulegen. Doch Hester Prynne ist in der Einsamkeit zu einem eigenständigen Denken gekommen und spricht dem Magistrat das Recht ab, über den scharlachroten Buchstaben zu bestimmen. In ihrer Einsamkeit entwickelt Hester Prynne auch selbständige Gedanken über das Verhältnis von Männern und Frauen. Für sich selbst schließt sie ein erfülltes Leben als Frau aus. Damit es das überhaupt geben könne, müssten sich die Männer, die gesellschaftlichen Verhältnisse, besonders aber die Frauen ändern. Vielleicht, so hofft sie, kann Pearl ein erfülltes Leben als Frau finden.

Als sie vom Totenbett des Gouverneur Winthrop mitten in der Nacht mit Pearl nach Hause geht, wird sie von Arthur Dimmesdale angesprochen, der in vollem Ornat auf dem Pranger steht. Sie stellt sich mit Pearl zu ihm. Pearl verlangt, dass Arthur Dimmesdale auch am Tage zu ihnen steht. Doch dazu kann sich Arthur Dimmesdale nicht entschließen. Er vertröstet Pearl auf das Jüngste Gericht. Hester Prynne ist geschockt über den körperlichen und moralischen Verfall von Arthur Dimmesdale, den Mann, den sie noch immer liebt. Sie beschließt zu handeln. Hester Prynne handelt in der Natur. Aber hier hat die Natur nicht zuerst die Bedeutung, die sie in der Puritanischen Gesellschaft hat, sondern eine andere: Natur bedeutet hier - wie auch schon beim Rosenbusch am Anfang des Buches - einen Bereich, indem die Eigenheiten und Besonderheiten der Menschen, eben ihre Natur, angenommen ist. In dieser Natur handelt Hester Prynne, und es wird sich zeigen, wie und warum sich diese Natur unter den Bedingungen der puritanischen Gesellschaft in den Bereich des Bösen verwandelt. Denn diese Verwandlung verbindet sich eng mit der weiteren Entwicklung von Hester Prynne.

Zunächst wartet Hester Prynne auf Roger Chillingworth und schickt Pearl spielen. Sie bittet ihn, Arthur Dimmesdale zu vergeben. Aber Roger Chillingworth kann das nicht tun. Seine Rache ist zu seinem einzigen Lebensinhalt geworden. Daraufhin fängt auch Hester Prynne an, die Verfehlungen zu verrechnen. Roger Chillingworth hat ihr ihrer Meinung nach mehr weh getan als sie ihm. Als sie Pearl wieder ruft, fragt das Mädchen nach der Bedeutung des Scharlachroten Buchstaben. Pearl ahnt bereits, dass es eine Verbindung zwischen diesem Symbol und der Geste Arthur Dimmesdales gibt, seine Hand auf sein Herz zu legen. Pearl hat ein Recht auf diese Frage, weil es dabei um ihre Identität als Tochter von Arthur Dimmesdale geht. Aber Hester Prynne möchte Arthur Dimmesdale nicht in Gefahr bringen. Sie beantwortet Pearls Frage nicht. An dieser Stelle wendet sich das Schicksal Hester Prynnes. Sie willigt in die Doppelmoral ein. Diese Wende bemerkt Hawthorne mit folgenden Worten: "Während der ganzen Jahre hatte Hester das Symbol auf ihrem Busen noch nie verleugnet. Vielleicht war es der Talisman eines strengen, aber doch schützenden Geistes, der sie jetzt verließ, als er erkannte, dass sich trotz seiner eifrigen Wache über ihr Herz ein neues Übel in dasselbe eingeschlichen hatte, oder ein altes nicht völlig aus ihm vertrieben worden war." Der schützende Geist verlässt Hester Prynne, als sie - die bisher stets aufrichtig und wahrhaftig war - die Wahrheit verleugnet und sich der Doppelmoral ergibt.

Hester Prynne wartet im Wald auf Arthur Dimmesdale. Der Urwald dient Hawthorne als Bild des moralischen Zustands von Hester Prynne. Pearl, die Hester Prynne begleitet, sammelt alles Licht für sich, während Hester Prynne das Licht zu vertreiben scheint. Sie geht im Schatten, im Dunkel, im Dämmerlicht der Doppelmoral. Sie schickt Pearl spielen, als Arthur Dimmesdale auftaucht. Die beiden Erwachsenen tasten sich langsam aneinander heran. Arthur Dimmesdale erzählt ihr von seiner Verzweiflung in der Heuchelei und von seiner Einsamkeit. Hester Prynne lüftet das Geheimnis des Roger Chillingworth. Nur mit Mühe kann Arthur Dimmesdale ihr vergeben, dieses Geheimnis bisher für sich behalten zu haben. Erschrocken durchdenkt er die Möglichkeit, dass Roger Chillingworth ihn verraten könnte. Er ist verzweifelt und wendet sich an Hester Prynne, für ihn zu denken, für ihn zu handeln.

Hester Prynne entwickelt den Plan zur Flucht. Sie erklärt sich bereit, mit Arthur Dimmesdale zu fliehen. Pearl wollen sie mitnehmen. Sie legt den scharlachroten Buchstaben ab, löst ihr wallendes dunkles Haar und erstrahlt im Glanz einer liebenden Frau. Sie formuliert auch Arthur Dimmesdale gegenüber, dass für sie das Miteinanderschlafen ein Akt der Liebe war. Sie sagt: "What we did, had a consecretion of ist own." (Was wir taten, hatte seine eigene Weihe.) Denn die Liebe, die sie mit Arthur Dimmesdale verband, machte aus der Sünde an sich eine geweihte Tat. Allerdings blieb sie eine Sünde, da Arthur Dimmesdale diese Liebe nicht zu erwidern vermochte. Für ihn war es eine bloße Tat der Leidenschaft. So bleibt die Anerkennung dieser Weihe aus.

Licht stellt sich ein und scheint eine Sympathie der Natur für den Plan zu verraten. Doch der Plan ist nur eine Fortsetzung der Doppelmoral. Er heilt nicht die Sünde, er verhindert die Heilung. Zur Heilung gehört das Bekenntnis, und gerade dies möchte Arthur Dimmesdale vermeiden. Mit dem Plan zur Flucht stellt sich Hester Prynne aus Liebe zu Arthur Dimmesdale selbst in den Dienst der Doppelmoral. Sie gibt ihre Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe auf, aus Liebe zu Artur Dimmesdale, der sich - wie es scheint - absolut nicht zu seiner Tat stellen will. Er denkt daran, dass er aus Leidenschaft gehandelt hat, dass die Flucht seinen großen Auftritt am "Election Day" nicht verhindert. Sie organisiert gedanklich die Flucht. Dafür ist es wichtig, dass Pearl und Arthur Dimmesdale sich kennen und lieben lernen.

Hester Prynne ruft Pearl herbei, die widerstrebend, langsam geradezu zögerlich zu den Erwachsenen stößt. Sie ist empört, dass Hester den scharlachroten Buchstaben abgelegt hat. (Dabei verdoppelt Pearl gegenüber ihren beiden Eltern, da sie sich im Bach spiegelt.) Pearl zwingt mit einem Wutanfall Hester Prynne den Buchstaben selbst aufzuheben und wieder anzulegen. Erst dann ist sie wieder "ihre Pearl". Dann wendet sie sich der Frage zu, was der Priester hier will. Will er nun auch in der Öffentlichkeit zu ihnen stehen? Aber Arthur Dimmesdale vertröstet Pearl erneut auf später. Pearl reagiert abweisend. In dieser Szene zeigt sich, dass die beiden Beziehungen, die für Hester Prynne ihr Leben bestimmen, nicht zusammengehen: Arthur Dimmesdale möchte das Geheimnis bewahren, das Pearl lüften möchte. Beides zugleich aber geht nicht. Hester Prynne sieht diese Zwickmühle und möchte fliehen, weil sie - mit Recht - glaubt, dass das mit der puritanischen Gesellschaft Bostons zusammenhängt. Aber gerade von der kann sich Arthur Dimmesdale nicht lösen. Denn sie ist sein Leben, und von ihren Maßstäben kann und will Arthur Dimmesdale nicht lassen. Er verrät seine Beziehung zu Hester Prynne erneut, indem er Pearl nicht öffentlich annehmen will. So steht Hester Prynne zwischen der Verdunkelung des Priesters und der Wahrheits-suche Pearls in einem unlösbaren Dilemma. Beides zugleich geht nicht, es schließt sich aus. Arthur Dimmesdale kann nur mit ihr zusammensein, wenn er seine Tat und sein Kind verleugnet. Indem Hester Prynne am Plan der Flucht festhält, schließt sie sich selbst der Doppelmoral aktiv an, sie setzt sie selbst um.

Am "Election Day" wirkt sie ruhig, verdeckt damit aber ihre Unruhe, die an Pearl zum Ausdruck kommt. Sie trägt ihren Buchstaben nicht mehr als Zeichen der Reue, sondern mit innerem Trotz, so als wollte sie sagen: Hier seht euch zum letzten Mal den scharlachroten Buchstaben an. Ihr werdet ihn nie wieder sehen. Zu Pearl sagt sie: Wir dürfen nicht immer auf dem Marktplatz über das reden, was uns im Wald zustößt. Auch der Hexe Hibbins versagt sie die Verbindung, als sie sich auf die Szene im Wald beruft. Hester Prynne hat nicht nur die Doppelmoral akzeptiert, sie setzt sie auch mit um und durch. Sie weiß sich nicht anders zu helfen, als ihre Liebe zur Wahrheit zu verraten.

Aber das nutz ihr nicht. Arthur Dimmesdale würdigt sie keines Blickes. Er lässt sie genauso allein, wie die vergangenen sieben Jahre. Sie fühlt ihre Wut darüber. Sie kann ihm das kaum verzeihen. Zugleich ist sie abgelenkt von der Organisation der Flucht. Sie erfährt, dass Roger Chillingworth sich auf demselben Schiff eingemietet hat. (Dies macht sichtbar, dass die Flucht keine Heilung der Sünde bringt. Sie können sich der Quälerei durch den alten Roger Chillingworth nicht entziehen.) Während Arthur Dimmesdale seine Predigt hält, beginnen zunächst die Matrosen und Weißen aus dem Umland, dann auch die Indianer und zuletzt auch die Bürger Bostons, sich um Hester Prynne herum aufzustellen und ihres Buchstabens willen sie zu begaffen. Der Buchstabe erhält seine alte Bedeutung als Zeichen der Sünde zurück. Die alten Matronen, die eingangs die Todesstrafe für Hester Prynne gefordert hatten, stehen auch jetzt wieder da und verurteilen und begaffen Hester Prynne mit ihrem scharlachroten Buchstaben. Sie ist wieder Objekt der doppelmoralischen Verurteilung, diesmal aber auch deswegen, weil sie sich selbst mit zum Subjekt doppelmoralischen Handelns gemacht hat.

Arthur Dimmesdale kommt nach seiner Predigt auf Hester Prynne zu, geht mit ihr und auf sie gestützt auf das Schafott und bekennt sich als "einziger" Sünder. Eine Gemeinschaft mit Hester Prynne sucht er nicht. Ihm geht es um sein eigenes Seelenheil. Für Hester Prynne hat er weder Trost noch Liebe. Eine gemeinsame Perspektive schließt er für das Leben nach dem Tod aus und verweist auf Gottes Gnade, die sich an seinem Weg zum Heil im Tod gezeigt habe. Arthur Dimmedale lässt Hester Prynne wie im Leben, so auch im Tod allein.

Hester lebt noch ein Jahr mit Pearl in Boston und geht dann mit ihr nach Europa zurück. Dort legt sie den scharlachroten Buchstaben ab. Nach der Hochzeit Pearls, die durch die Erbschaft des verstorbenen Roger Chillingworth eine "gute Partie" wird, kehrt Hester Prynne nach Boston in das Haus am Meer zurück, und zieht den Buchstaben wieder an. Sie wird zu einer geachteten Frau, die viel über das Verhältnis von Männern und Frauen nachdenkt. Von Frauen, die Probleme mit diesem Verhältnis haben, wird sie aufgesucht, um sich Rat zu holen.

Hester Prynne ist mutig, tatkräftig, schön und elegant. Sie hält sich an die Wahrheit und ist von sich aus bereit, Sünden zu vergeben. Sie kann die Verbgebung der Sünden jedoch nicht alleine vollbringen. Roger Chillingworth lehnt eine Vergebung der Sünden ab. Die Liebe zu Arthur Dimmesdale treibt Hester Prynne letztlich zurück in die Doppelmoral, so dass sie dem Schicksal nicht entgehen kann, mit dem scharlachroten Buchstaben als Sünderin ihr Leben zu führen und zu beenden. Der scharlachrote Buchstabe brennt auf ihrer Brust als das Zeichen ihrer Schuld, aber er wechselt seine Bedeutung. Er bedeutet A wie Arthur Dimmesdale, A wie "adulteress", A wie Engel, "angel", im Falle des Gouverneur Winthrop, A wie fähig "abel". Er wird zur Werbung für die Näherin Hester Prynne, er wird für ein Zeichen einer edlen Dame gehalten. Nachdem Hester Prynne die Wahrheit gegenüber Pearl verlassen hat, wird er zum Zeichen des "schwarzen Mannes", und nach der Rückkehr nach Boston wird er zum Zeichen für eine aufrichtige, weise Frau. Schließlich erscheint er auch auf ihrem Grabstein. Hester Prynne liebt Arthur Dimmesdale ihr Leben lang und kann sich den verhängnisvollen Folgen dieser ihrer Liebe nicht entziehen. Durch das Festhalten an dieser Liebe gerät sie in ein Dilemma zwischen der Verdunkelung der Vaterschaft durch Arthur Dimmesdale und die Suche nach der Wahrheit und der eigenen Identität von Pearl. Denn Arthur Dimmesdale ist dieser Liebe nicht würdig, verleugnet Pearl bis zur Stunde seines Todes und lässt Hester Prynne in Leben und Tod allein. Für Hester Prynne ist der Ehebruch in einem absoluten Sinne keine Sünde. Er hatte, wie sie feststellt, seine eigene Weihe durch die Liebe, die sie mit ihm verbunden hat. Gott verurteilt sie nicht, sondern schenkt ihr Pearl. Was die Menschen als Schande und Sünde verurteilten, wofür sie Hester Prynne isolierten und jahrelang als Sünderin betrachteten, das hat Gott ihr mit einem lieblichen Kind vergolten, mit dem Hester Prynne in der Generationenfolge der Menschheit ihren Platz innehat. Diese Stelle ist die einzige, in der vom Erzähler selbst Gott erwähnt wird. In einem absoluten Sinne war der Ehebruch keine Sünde! Durch die Liebe von Hester Prynne hatte er seine eigene Weihe.

7. Pearl

Pearl ist ein Geschenk Gottes. Gott beschenkt damit Hester Prynne und Arthur Dimmesdale. Denn Pearl ist ein unmittelbares Ergebnis ihres Ehebruchs. Ausdrücklich vermerkt Hawthorne, dass, was die Menschen als Sünde verurteilen, von Gott durch das Kind Pearl beschenkt wird. Dies ist die einzige Stelle des Romans, wo der Erzähler Gott erwähnt. Pearl ist ein besonders liebliches Kind. Sie wäre würdig, als Spielzeug der Engel im Paradies zu bleiben, nachdem die Menschen daraus vertrieben werden. Pearl ist ein sehr schönes, sehr lebendiges und vielseitiges Kind. Sie liebt das Licht und zieht es an. Sie wird von ihrer Mutter in reichen Farben gekleidet, die ihre Schönheit noch unterstreicht.

Alle diese Eigenschaften können nicht verhindern, dass Pearl den Puritanern als der mit Leben begabte Scharlachrote Buchstabe erscheint, als die lebende Sünde. Ihre Kleidung wird als Abbild des Scharlachroten Buchstaben gesehen. Sie wird von den Kindern der Puritaner gemieden, verachtet und sogar mit Dreck beworfen. Mit viel Energie und Selbständigkeit setzt sie sich mit diesen Angriffen auseinander und weiß sie abzuweisen. Sie vermag sich zu behaupten. Pearl gilt als charakterlicher Ausdruck der Gesetzeswidrigkeit der Tat, der sie ihre Entstehung verdankt. Tatsächlich legt sie des öfteren ein Verhalten an den Tag, das eine solche Auffassung ihres Charakters nahe zu legen scheint. Aber dies ist eine interessierte Interpretation ihres Wesens durch den herrschenden Puritanismus, ausgesprochen durch Roger Chillingworth und Arthur Dimmesdale. Denn in dieser Interpretation wird das Leid der Pearl nicht nur ignoriert, sondern in diesem Unverständnis noch verstärkt.

Die Grundwunde Pearls ist ihre Verleugnung, ihr Nicht-Angenommensein von ihrem Vater. Schon in der ersten Szene erkennt das Baby instinktiv seinen Vater, wendet seine Aufmerksamkeit und seine Arme dem sprechenden Vater zu, der es aber verleugnet. Pearl reagiert mit einem Wutanfall, der nur durch einen ärztlichen Eingriff zu beruhigen ist. Dass Arthur Dimmesdale die Vaterschaft verleugnet, wird von Pearl im gesamten Roman immer stärker und bewusster aufgefasst, thematisiert und bekämpft. Pearl möchte, dass ihre Eltern zu ihr stehen. Das ist beim Vater von Anfang an nicht der Fall. Die Wut und die Verzweiflung darüber bringen etwas Dämonisches, unbeherrscht Aggressives in ihren Charakter. Wenn sich dieser Zug an Pearl äußert, dann gerät Hester Prynne in Zweifel, ob es sich wirklich um ihr Kind handelt. Auch sie droht Pearl zu verleugnen. Damit berührt und vertieft sie die Grundwunde Pearls. Die reagiert allergisch, teils gefühllos, finster und unzufrieden, teils mit krampfartigen Bauchschmerzen und Wutanfällen.

Pearls Haupteigenschaften sind eine Verbindung der Wahrheitsliebe von Hester Prynne und der Leidenschaftlichkeit von Arthur Dimmesdale. Aber da Arthur Dimmesdale seine eigene Leidenschaftlichkeit unterdrückt, ist Pearl zugleich eine Projektionsfläche für das Ausgegrenzte von Arthur Dimmesdale, so dass sie etwas Dämonisches und Koboldhaftes erhält. Jedenfalls erkennt Hester Prynne darin das Gesicht von Arthur Dimmesdale, wenn Pearl solche aggressiven koboldhaften Stimmungen hat. Einmal wird Hester Prynne derart verunsichert, dass sie Pearl fragt, wer sie geschickt habe. Pearl gibt diese Frage ernsthaft zurück. Die Antwort, der himmlische Vater habe sie geschickt, weist Pearl zurück. Es geht ihr nicht um den himmlischen, sondern um den irdischen Vater. Diese Grundwunde wird auch bei der Katechismus-Prüfung berührt. Obwohl Pearl weiß, wonach gefragt wird, verweigert sie sich. Sie antwortet nicht, wie es verlangt ist, dass Gott sie geschickt habe. Sie verweist auf eine Leerstelle: Sie wurde gar nicht geschickt, sondern von ihrer Mutter vom Rosenstrauch gepflückt, der vor dem Gefängnis steht. Als Arthur Dimmesdale die Situation rettet und sich insofern, wenn auch nicht öffentlich und nicht direkt, zu seiner Verantwortung bekennt, nähert sich Pearl ihm vertraulich. Er streichelt sie, und das Kind springt vor übermütigem Glück, wie es scheint, im Raum umher.

Die Wahrheitsliebe und Sensibilität von Pearl kommt darin zum Ausdruck, dass sie schnell den Zusammenhang zwischen dem Scharlachroten Buchstaben und der Geste Arthur Dimmesdales, seine Hand auf sein Herz zu halten, instinktiv erfasst. Als sie auf dem Friedhof über die Gräber tanzt, verbindet sie mit Kletten den Scharlachroten Buchstaben auf der Brust ihrer Mutter und Arthur Dimmesdale, der zurückschaudert. Zugleich warnt sie vor Roger Chillingworth, den sie als den schwarzen Mann charakterisiert. Arthur Dimmesdale habe er schon gefangen. Wenn Hester Prynne länger bleibe, werde er auch sie fangen. Aber es werde ihm nicht gelingen, sie selbst, Pearl, zu erwischen.

Was Pearl schon früh geahnt hat, wird für sie zur Gewissheit, als Arthur Dimmesdale sie und Hester Prynne nachts auf den Pranger ruft, um dort mit ihm zu stehen. Von nun an fordert Pearl, dass Arthur Dimmesdale sich auch in der Öffentlichkeit und am Tage zu ihr und Hester Prynne bekenne. Doch Arthur Dimmesdale verweist auf das Jüngste Gericht. (Die Natur erhellt die Szene durch einen Meteor, so als wollte Gott sagen, dass jetzt die Zeit der Offenbarung dieses Verhältnisses gekommen sei.) Pearl entzieht dem Priester ihre Hand und kritisiert Arthur Dimmesdale wegen seines mangelnden Mutes und seiner mangelnden Treue.

Während Hester Prynne mit Roger Chillingworth spricht, verkleidet sich Pearl als Seejung-frau und stellt mit etwas Riedgras den Scharlachroten Buchstaben nach. Als Hester Prynne herauskriegen will, wie viel Pearl ahnt oder weiß, fragt Pearl nach der Bedeutung des Scharlachroten Buchstaben, d. h. sie fragt nach ihrer eigenen Identität. Damit spricht sie das Gesetz ihres Handelns im Roman aus. Sie sucht nach ihren sich zu ihr bekennenden Eltern. Doch aus Angst vor den Folgen für Arthur Dimmesdale verweigert Hester Prynne ihr die Wahrheit, obwohl Pearl immer wieder und mit großer Ernsthaftigkeit nachfragt. Damit wird Pearl nicht nur vom Vater, sondern nun auch von der Mutter verleugnet. Diese Verleugnung verstärkt sich noch, als Hester Prynne die Flucht mit Arthur Dimmesdale plant. Hester Prynne legt den Scharlachroten Buchstaben ab und verleugnet damit ihre Mutterschaft von Pearl. Denn das Erste, was Pearl in ihrem Leben gesehen hat, noch bevor sie die Mutter wahrnahm, war der Scharlachrote Buchstabe. Pearl hält sich jenseits des Baches und droht, schimpft und stampft auf den Boden.

Sie steht Hester Prynne und Arthur Dimmesdale gegenüber und fühlt sich nun von beiden Eltern verleugnet. Dieser doppelten Verleugnung gegenüber erscheint sie dadurch, dass sie sich im Bach spiegelt, mit einer doppelten Präsenz. Sie behauptet sich zwar, indem sie durchsetzen kann, dass Hester Prynne den Scharlachroten Buchstaben wieder anlegt, so dass sie wieder Hester Prynnes Pearl sein kann, aber in der Sache vermag sie sich nicht zu behaupten. Arthur Dimmesdale anerkennt seine Vaterschaft öffentlich nicht. Im Gegenteil verfolgen beide Eltern den Plan der Flucht, der diese Verleugnung zu seinem positiven Inhalt hat. Überdies gibt nun auch Hester Prynne der Doppelmoral nach. Daher wird Pearl zu einer Projektionsfläche ausgegrenzter Momente nicht mehr nur des Vaters, sondern auch der Mutter. Während die ausgegrenzten Momente von Arthur Dimmesdale als Koboldhaftes oder als Dämonisches an Pearl erscheinen, wird Pearl mit einem Vogel verglichen, wenn sie verdrängte Momente ihrer Mutter zum Ausdruck bringt.

Am "Election Day" ist Hester Prynne nervös. Aber sie verbirgt diese Nervosität hinter einer marmornen Fassade. In Pearls Unruhe drückt sich Hester Prynnes Nervosität aus. In vogelartigen Bewegungen hüpft und fliegt sie über den Marktplatz. Hester Prynne erklärt ihr den Sinn des Feiertags und den Aufzug. Auch der Geistliche wird im Aufzug vorbeikommen, aber Pearl und Hester Prynne dürfen ihn nicht kennen. Pearl bedauert Arthur Dimmesdale und bezeichnet ihn als trübselig und sonderbar. Dabei stellt sie ausdrücklich die Doppelmoral fest. Noch unruhiger und vogelartiger wird Pearl, als Arthur Dimmesdale beim Aufzug Hester Prynne und Pearl ignoriert. Pearl fragt, ob das derselbe Mann war, der sie am Bach geküsst hat.

Als Arthur Dimmesdale schließlich Hester Prynne und Pearl auf den Pranger ruft, lächelt er Pearl süß und milde an. Er nennt sie meine Pearl und fragt sie, ob sie sich von ihm küssen lassen will. Pearl küsst Arthur Dimmesdale und ist geheilt. Sie hat ihre - so lange gesuchte - Identität gefunden. Sie weint vor Trauer und Glück, denn sie hat nun einen Vater, den sie zugleich verliert. Damit hat sie auch einen Platz auf der Welt als Frau. Ihre Funktion, ihre Mutter zu quälen, verliert sie in diesem Augenblick. Sie ist geheilt. Denn sie dient nicht mehr als Projektionsfläche der Leidenschaftlichkeit des Vaters und der Unruhe der Mutter. Sie lebt nicht mehr die durch die Doppelmoral ausgeschlossener Momente ihrer Eltern. Sie erbt das Vermögen des Roger Chillingworth und ist mit einem Schlag reich. Hester Prynne geht mit ihr zurück nach Europa, wo Pearl offenbar glücklich heiratet und Kinder bekommt. Hester Prynne kehrt zurück, legt den Buchstaben an und zieht wieder in ihr Haus. Geschenke, die Hester Prynne zugeschickt erhält, zeigen, dass Pearl offenbar Reichtum und Geschmack hat.

Pearl ist eine liebliches, vielseitiges, mutiges, tatkräftiges und entschlossenes Kind. Sie ist energisch, stolz und doch verunsichert, weil sie nach ihrer Identität sucht. Sie ist immer an der Wahrheit orientiert und sucht hartnäckig nach ihrem Vater. Sie kann es nicht ertragen, dass Arthur Dimmesdale sie verleugnet. Als die Mutter Hester Prynne dieser Linie folgt, reagiert Pearl mit Zorn, Wut und Verzweiflung. Sie ist die Projektionsfläche der durch die Doppelmo-ral ausgegliederten Teile der Eltern. Während Arthur Dimmesdale seine Leidenschaftlichkeit und seine - an ihm selbst unterdrückten oder gegen sich selbst gerichteten - Aggressionen aus sich aussondert, wird Pearl damit belastet. Sie wird aggressiv, unduldsam und agiert wie eine Gesetzlose. Sie wird als Kobold oder Dämon, mitunter auch als Elf bezeichnet. Als Hester Prynne ebenfalls in die Doppelmoral abgleitet, ist Pearl überdies die Projektionsfläche der Nervosität der Mutter, die sich in Pearls Unruhe ausdrückt. In diesem Falle wird sie einem Vogel verglichen. Diese Projektionen lasten auf Pearl wie eine Krankheit. Erst als Arthur Dimmesdale sich zu ihr bekennt und stirbt, fallen diese Krankheiten von Pearl ab.

Pearl kann nicht in Neuengland bleiben, wo die Wahrheit keine Chance hat. Sie muss gehen. Denn die Moral der Geschichte versäumt Hawthorne nicht, uns direkt mitzuteilen: "Be true! Be true! Be true!". Pearl ist "true" und verlässt Neuengland, wo die Finsternis und Doppelmo-ral noch zunehmen werden. Nicht nur schreibt Hawthorne das unmittelbar, es wird auch durch die des öfteren vermerkte Tötung der Hexe Hibbins deutlich. Für die Wahrheit ist unter dem Puritanismus kein Platz, weil er Gesetz und Religion identifiziert. Die Religion ist zu einem Mittel der Legitimierung politischer Herrschaft geworden. Was das Christentum durch Freiheit und Vergebung der Sünden überwinden wollte, die absolute Herrschaft des Gesetzes, ist im Puritanismus wiedergekehrt. Pearl wird befreit, indem Hester Prynne sie aus dem Zusammenhang herausholt, der es ihr unmöglich gemacht hat, sich der Doppelmoral zu entziehen.

8. Schluss

Hester kehrt nach Boston zurück, weil sich ihr Schicksal hier entschieden hat und weil sie Arthur Dimmesdale liebt. Sie glaubt, dass der Himmel, wenn die Welt dafür reif sei, eine neue Wahrheit offenbaren werde, die das Verhältnis von Männern und Frauen auf eine sichere Grundlage gegenseitigen Glücks stellen werde. Dazu werde der Himmel eine Prophetin schicken, aber nicht sie, sondern eine hohe, reine und schöne Frau, die nicht durch Kummer weise geworden ist, wie Hester Prynne, sondern durch ätherische Vermittlung der Freude. Sie werde uns Menschen zeigen, wie uns eine geweihte Liebe glücklich macht, indem sie ein darin erfolgreiches Leben führt. Hester Prynne selbst kann, weil sie mit Sünde belastet ist, diese Frau nicht sein.

In dieser Darstellung einer Utopie von Hester Prynne, zeigt sich, warum Hawthorne die Religion in den Mittelpunkt seiner Betrachtung rückt. Nur ein Mensch, der nicht durch solche Verhältnisse, wie sie der Puritanismus darstellt, verunreinigt und verdorben ist, kann eine Wende in der Geschichte bringen. Wenn das so ist, dann ist allerdings eine Prophetin oder ein Prophet, eine Gottgesandte oder ein Gottgesandter notwendig. Denn die Herrschaft verkehrt die Religion in ihr Gegenteil. Aus einer Erlösungsreligion durch Vergebung der Sünden wird eine Gesetzesreligion, eine Religion, die das Gesetz verabsolutiert. Jeder Gesetzesbruch wird zu einer nicht zu tolerierenden Sünde, von deren Vergebung durch die Christen keine Rede sein kann. Wenn es aber keine Vergebung der Sünden auf der Erde geben kann, dann herrscht mit Notwendigkeit Doppelmoral. Dann verkehrt die Religion sich in ihr Gegenteil: Sie schafft eine Notwendigkeit zur Sünde, zur Lüge, zur Unwahrhaftigkeit. Die Doppelmoral ist eine zwingende und notwendige Folge der Verabsolutierung der Herrschaft und des Gesetzes, oder der Identifizierung der Religion mit dem Gesetz.

Dann allerdings hilft nur ein Eingreifen Gottes, der einen reinen und sündlosen Menschen, damals Jesus, nach Hester Prynne jetzt eine Frau, schicken muss, um die Menschheit aus dieser Situation zu befreien. Denn die Herrschaft kann sich nicht selbst beherrschen. So bleibt Hawthorne nur eine religiöse Perspektive auf die Befreiung.

Die Berufung auf Gott verbirgt hier ein logisches Problem: Wie können die Menschen, die ihrer Herrschaft nicht Herr sind, sich selbst befreien? Zu dieser Frage weiß Hawthorne nur zu sagen: Aus der Sicht der Religion können sie das gar nicht. Es bedarf eines Heilshandelns Gottes. Es ist das Großartige der Theorie von Marx und Engels, als erste auf diese Frage eine Antwort gegeben zu haben, die dieses logische Problem - zumindest theoretisch - löst, und die sich an die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu befreien, wendet. Aber das wäre ein anderes Symposion.

Fußnoten

  1. Man weiß nicht, ob der Rosenbusch die Rodung und den Bau des Gefängnisses überlebt hat, oder ob Ann Hutchinson, eine - wenn auch häretische - Heilige sie gepflanzt hat, als sie wegen der Intoleranz der Puritaner ins Gefängnis musste. Man weiß nicht, ob die schöne Blume noch von der Zeit vor dem Gefängnis übrig ist, oder erst nach dem Gefängnis und durch eine Entwicklung, zu der auch das Gefängnis gehört, entstanden ist. Dieses Nichtwissen lässt sich am besten so verstehen, dass beides - obwohl es sich gegenseitig ausschließt - richtig ist: Die Entwicklung jener Blüte setzt sie einerseits von Anfang voraus, andererseits entsteht sie nur als Resultat einer Entwicklung, die notwendig aus ihrem Gegenteil hervorgeht.
  2. Diese Beschreibung widerspricht Vorstellungen, die mit der Doppelmoral eine größere Handlungsfreiheit verbinden. Denn bei Arthur Dimmesdale mag zwar eine größere Handlungsfreiheit gegeben sein. Die Auswirkung der Doppelmoral aber ist nicht Handlungsfreiheit, sondern im Gegenteil Lähmung.