Texte:Ingo Elbes "Marx": Unterschied zwischen den Versionen
(→Ist kritische Gesellschaftstheorie möglich?) |
(→IV. Der Widerspruch im Begriff des Wertes) |
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===IV. Der Widerspruch im Begriff des Wertes=== |
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+ | Die kapitalistische Gesellschaft soll also in sich widersprüchlich sein, behaupten die traditionalistischen „Arbeiterbewegungsmarxisten“. Dann müsste dieser Widerspruch auch in den Kategorien sichtbar werden, in denen die kapitalistische Gesellschaft gedacht wird, zum Beispiel in der Kategorie des Werts. Gerade dies bestreitet Ingo Elbe. Er sagt nämlich: „Die Einheitsdimension von Gebrauchswert und Wert ist ohne jeden logischen Widerspruch denkbar.“ Um das zu prüfen, ist es erforderlich, dem Gang der Argumentation zu folgen. Überraschender Weise beginnt Ingo Elbe nicht – wie Marx – mit der Ware. Er geht sofort auf den Kern der Sache ein, auf den Wert: „Zunächst gilt der Wert selbst als gesellschaftliche Einheitsdimension von Privatprodukten: Die isoliert voneinander produzierten Güter werden als Waren, durch das Absehen von ihren Gebrauchswerten und das Reduzieren auf Produkte abstrakter Arbeit, in ihrer Wertdimension aufeinander bezogen und so vergesellschaftet.“ (S. 13) Ingo Elbe geht also bei der Erklärung der Widerspruchsfreiheit von der Privatproduktion aus. In der Privatproduktion stellt sich das Produkt als Ware dar. Wieso das so ist, das erfahren wir von Ingo Elbe nicht. Tatsache ist: es ist so und das funktioniert. Denn so fährt Ingo Elbe fort: „Abstrakte Arbeit als Nominalabstraktion ist eine Eigenschaft, die jeder Ware als Produkt menschlicher Arbeit zukommt.“ Die Eigenschaft der Ware ist die, Produkt abstrakt allgemeiner Arbeit zu sein. Abstrakte Arbeit ist nicht eine Eigenschaft der Ware, sondern eine Form, unter der sich die menschliche Arbeitstätigkeit unter Bedingungen privater Produktion in ihrem Produkt unter einem Aspekt darstellt. |
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+ | Zur Wertsubstanz reicht das nach Ingo Elbe jedoch nicht. „Das konstituiert sie allerdings noch nicht zur Wertsubstanz. Diese ist nur gegeben, wenn Arbeitsprodukte in ihrer Eigenschaft als bloße Produkte menschlicher Arbeit im Tausch auf einander bezogen werden. Damit ist die Wertsubstanz eine rein relationale Eigenschaft, die eine nicht relationale Eigenschaft als Träger besitzt.“ Wertsubstanz entsteht nur beim Tauschen. Also – so schließt Elbe – ist die Wertsubstanz eine rein „relationale Eigenschaft“. Eine einzige Ware als solche kann keine Wertsubstanz haben, weil sie dazu in einer Relation zu einer anderen Ware stehen muss. Das aber tut sie im Tausch. |
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+ | Gehen wir davon aus, dass es so ist. Der Wert ist dann die „Dimension“ der Einheit der Waren. Von ihm ist die Ware als solche zu unterscheiden. „Vom Wert als Einheitsdimension zu unterscheiden ist die Ware als Einheit von Gebrauchswert und Wert, die zunächst nur das Nebeneinanderbestehen zweier verschiedener Bestimmungen – stofflicher und gesellschaftlicher – desselben Gegenstandes meint.“ Ein Gegenstand hat zwei Bestimmungen, eine stoffliche und eine gesellschaftliche. Beide bestehen nebeneinander. Wo soll da ein Widerspruch herkommen? „Eine Ware ist ein ‚in einer gesellschaftlich-unspezifischen Hinsicht Gebrauchswert, d. h. ein Stück bearbeiteter Natur [...] und in einer gesellschaftlich spezifischen Hinsicht Wert.’“ |
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+ | Überzeugt Ingo Elbes Ableitung einer relationalen und einer nichtrelationalen Eigenschaft von Waren, die nicht zueinander in Widerspruch steht? |
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+ | Eine Ware hat einen Gebrauchswert und einen Wert. Insofern kann man sie als Einheit von Gebrauchswert und Wert bestimmen. Der Wert dieser Ware erscheint im Tausch als der Tauschwert dieser Ware in anderen Waren. Der Wert der Ware ist jedoch von diesem Tauschwert unterschieden. Daraus schließt nun Elbe, dass Gebrauchswert und Wert nichts miteinander zu haben, dass sie zwei einander gleichgültige Bestimmungen eines Dinges sind, wie etwa Lage und Farbe, nur dass die eine Eigenschaft, im Vergleich die Lage, „relational“ sei, die andere aber nicht. Elbe betrachtet nicht die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die dazu führen, dass es zur Warenproduktion kommt. Er geht nicht zur Darstellung des Doppelcharakters der in Waren dargestellten Arbeit über, wie Marx das im „Kapital“ tut |
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+ | Denn Gebrauchswert und Wert kommen der Ware nur insofern zu, als sie Resultat privatbetriebener, arbeitsteiliger, und also marktvermittelter menschlicher Arbeitstätigkeit ist. Die Arbeit, die sich in den Waren darstellt, hat einen Doppelcharakter, und dieser Doppelcharakter ist der Springpunkt aller Kategorien der politischen Ökonomie, wie Marx im „Kapital“ (MEW23, S. 56) behauptet. Dieser Doppelcharakter der in der Ware dargestellten Arbeit resultiert daraus, dass sich ein und dieselbe Arbeitstätigkeit unter der Bedingung gesellschaftlicher Arbeitsteilung privater Produzenten am Produkt unter zwei Gesichtspunkten darstellen muss, nämlich einerseits insofern sie ein bestimmtes gesellschaftliches Bedürfnis befriedigt, mithin einen Gebrauchsgegenstand im weitesten Sinne hervorbringt, andererseits aber insofern diese Tätigkeit als Verausgabung gesellschaftlich notwendiger menschlicher Arbeit überhaupt angesehen wird. Wenn man so will, kann man das als die Hinsichten Elbes betrachten. Der Ausdruck Wertsubstanz bezeichnet bei Marx dies, dass die Waren Resultate menschlicher Arbeit überhaupt sind, dass sich also in ihnen „verausgabte menschliche Arbeitstätigkeit“ darstellt. |
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+ | Dass sie als solche auf Tausch hin produzierte Waren sind, ist zweifellos richtig, macht aber nicht den Unterschied zwischen dem Wert als solchen und der Wertsubstanz aus. Denn insofern Waren als solche produziert werden, haben sie Anteil an der Wertsubstanz: „Die Arbeit jedoch, welche die Substanz der Werte bildet, ist gleiche menschliche Arbeit, Verausgabung derselben menschlichen Arbeitskraft. Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, die sich in den Werten der Warenwelt darstellt, gilt hier als ein und dieselbe menschliche Arbeitskraft, obgleich sie in zahllosen individuellen Arbeitskräften besteht.“ Die gesamte gesellschaftliche Arbeitskraft verteilt sich von selbst auf verschiedene Arbeitstätigkeiten. Ein und dieselbe Arbeitstätigkeit der Menschen wird daher in der Arbeitswertlehre auf eine gedoppelte Weise betrachtet, einmal als konkret-nützliche, Gebrauchswert produzierende Tätigkeit, und das andere Mal als Wert produzierende Arbeit. |
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+ | Der Wert entspringt aber nicht der Betrachtung der Arbeit selbst, also aus der sogenannten „lebendigen Arbeit“, sondern der bereits verausgabten Arbeit. Die Einheit, die Gebrauchswert und Wert zugrunde liegt, ist die unmittelbare lebendige Arbeitstätigkeit selbst. Sie muss aber zu einem Ende kommen, in Produkten resultieren, damit Waren entstehen. An den Produkten, insofern sie Waren sind, treten nun die Bestimmungen dieser Arbeit als verschiedene Bestimmungen auf. Dieselbe Arbeit stellt sich unter verschiedenen Aspekten dar, als konkret nützliche Arbeit und als abstrakt allgemeine Arbeit. Diese Aspekte scheinen zunächst einfach verschiedene Betrachtungsweisen eines – unter arbeitsteiligen privaten Bedingungen produzierten – Arbeitsprodukts zu sein. Es lässt sich als nützliches Ding betrachten, dann ist es Gebrauchswert, und es lässt sich als Resultat menschlicher Arbeit überhaupt betrachten, dann ist es ein Wert. Dieser Unterschied mausert sich aber im wirklichen Tausch zu einem „Gegensatz“ und dann auch zu einem „Widerspruch“, zumindest wenn man sich an Marx hält. Denn der schreibt im „Kapital“ (MEW, Bd. 23, S. 128): „Der der Ware immanente Gegensatz von Gebrauchswert und Wert, von Privatarbeit, die sich zugleich als unmittelbar gesellschaftliche Arbeit darstellen muss, von besonderer konkreter Arbeit, die zugleich als abstrakt allgemeine Arbeit gilt, von Personifizierung von Sachen und Versachlichung von Personen – dieser immanente Widerspruch erhält in den Gegensätzen der Warenmetamorphosen seine entwickelte Bewegungsform. Diese Formen schließen daher die Möglichkeit, aber auch nur die Möglichkeit von Krisen ein.“ Marx sagt also: Es gibt einen immanenten Gegensatz der Bestimmungen Gebrauchswert und Wert, der sich zu einem Widerspruch entwickelt. Dieser Widerspruch findet seine ihm eigenen Bewegungsformen in der Warenmetamorphose. Weil sie Bewegungsformen des Widerspruchs der der Ware immanenten Gegensätze sind, ermöglichen sie Krisen. (Deren Möglichkeit ist schwerlich auf Darstellungsbesonderheiten des „Kapital“ von Karl Marx zurückzuführen.) Insofern sie als solche erkannt sind, ermöglichen sie auch die Erkenntnis der Möglichkeit von Krisen, aber eben nur deshalb, weil sie der wirkliche Ermöglichungsgrund für Krisen sind. Marx sieht Gebrauchswert und Tauschwert als widersprechende Moment nicht nur in einer Theorie, sondern auch in dem von der Theorie dargestellten Gegenstand an. Und Marx sagt auch, worin dieser Widerspruch besteht: Die Privatarbeit muss sich unmittelbar als gesellschaftliche Arbeit darstellen (Oder anders formuliert: Nicht gesellschaftliche Arbeit muss sich unmittelbar als gesellschaftliche Arbeit darstellen.) Konkret nützliche Arbeit muss zugleich und unmittelbar als abstrakt allgemeine Arbeit gelten. Und nun kommt der große Augenblick des Ingo Elbe. Er beruft sich nämlich darauf, dass da „gelten“ steht und nicht „sein“. Er macht das in Bezug auf die Wertformanalyse. In der Gleichung „x Ware A = y Ware B wert“ steht der Gebrauchswert der Ware B als Ausdruck für den Wert der Ware A. Die konkret nützliche Arbeit, die in der Produktion der Ware B resultiert, stellt in dieser Gleichung die abstrakt allgemeine Arbeit überhaupt dar, in der die konkret nützliche Arbeit, die zu dem Produkt A führt, ihren Wert ausdrücken kann. |
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+ | „Die Naturalform von B gilt aber im Rahmen dieses Verhältnisses lediglich als Wertform von A. Es verwandelt sich dabei weder der Wert (von A) in den Gebrauchswert (von B) noch der Gebrauchswert (von B) in den Wert (von A). Die Wertform x Ware A = y Ware B ist ein polarischer Gegensatz. Dessen Pole sind Reflexionsbestimmungen, d. h. Eigenschaften, die ihnen nur innerhalb ihres Verhältnisses aufeinander zukommen. Die irrationale Auffassung, in der Wertform entstehe eine reale Verschmelzung von Gebrauchswert und Wert konkreter und abstrakter Arbeit, Privatarbeit und gesellschaftlicher Arbeit, erliegt gerade dem Warenfetisch, der relationale Eigenschaften als Dingeigenschaften begreift.“ |
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+ | Ein Widerspruch wäre es also, so Elbe, wenn da stünde, es ist, aber da steht nur, es gilt. Und wenn etwas nur gilt, dann ist es nur so innerhalb eines Verhältnisses. Sehr richtig! Aber eben dieses Verhältnis, eben die gesellschaftlichen Verhältnisse, um deren Darstellung als Verhältnisse von Dingen es sich handelt, sollen es dem „Arbeiterbewegungsmarxismus“ gemäß sein, die widersprüchlich sind. Jemand weist auf die Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse hin! Ingo Elbe antwortet ihm: Das ist kein Widerspruch, das ist nur ein Verhältnis. Denn da steht ja „gilt“. Da steht ja nicht „ist“. Also ist es kein Widerspruch. Läge eine „reale Verschmelzung“ von abstrakter und konkret nützlicher Arbeit vor, von Privatarbeit und gesellschaftlicher Arbeit vor, ja dann könnte man von einem Widerspruch sprechen. Aber so...! |
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+ | Ingo Elbe hat recht. Die Verschmelzung ist nicht da, man müsste genaugenommen sagen, nicht mehr da. Die Verschmelzung ist verschwunden. Aber sie liegt, das hat Ingo Elbe übersehen, der ganzen Sache zugrunde. Die Verschmelzung ist die den Waren vorausgegangene lebendige Arbeit. Die Menschen arbeiten nicht zweimal: einmal abstrakt und einmal konkret nützlich. Die lebendige Arbeit, die sich in den Waren verausgabt darstellt, ist ein und dieselbe Arbeit, sie ist die – von Ingo Elbe brüskiert zurückgewiesene – „Verschmelzung“ von konkret-nützlicher und abstrakt-allgemeiner Arbeit. Es gibt gar keine warenproduzierende Arbeit, für die das nicht gilt. Weil sich aber am Produkt der Arbeit, die sich in Waren darstellt, diese beiden Aspekte nicht getrennt darstellen lassen, deswegen bedarf die Ware A zur Darstellung ihres Wertes einer anderen Ware, die ebenfalls Resultat der „realen Verschmelzung“ von Gebrauchswert und Wert ist, da sie ebenfalls Resultat einer privaten Arbeitstätigkeit ist, die unmittelbar als gesellschaftliche Arbeitstätigkeit gelten soll. So kann und muss die Ware A eine andere Ware, nehmen wir die Ware B, benutzen, um sich ihren Wert in der Ware B zu spiegeln. Dann gilt die Ware B in ihrer konkret nützlichen Gebrauchswertgestalt als reines Wertding, obwohl auch sie Resultat einer Arbeitstätigkeit ist, die eine reale Verschmelzung von Privatarbeit und gesellschaftlicher Arbeit ist. Abstrakte Arbeit ist nicht eine Eigenschaft der Dinge, sondern eine Darstellungsform der Arbeitstätigkeit der Menschen unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse. Das „gilt“ resultiert hier tatsächlich aus einer versuchten unmittelbaren Verschmelzung von konkret nützlicher und abstrakt allgemeiner Arbeit, um die abstrakt allgemeine Arbeit vorstellbar zu machen. Aber der Witz ist: Es handelt sich darum, dass die konkret nützliche Arbeit, die zur Ware A führte, sich als abstrakte Arbeit dadurch darstellt, dass sie eine andere konkret nützliche Arbeit für die abstrakt allgemeine Arbeit überhaupt nimmt. Sie veräußert also ein Moment der Arbeit, das sie in sich birgt, in der Darstellung so, dass sie ihren Anteil an der abstrakt allgemeinen Arbeit ausgedrückt in der konkret nützlichen Arbeit einer anderen Ware findet. Deswegen „gilt“ die andere Ware als Darstellung des Werts überhaupt. Sie ist es nicht. Aber beide Waren sind gleichermaßen Resultate von „realen Verschmelzungen“ von abstrakt allgemeiner und konkret nützlicher Arbeit, d.h. von der lebendigen Arbeitstätigkeit selbst, die allerdings unter Bedingungen privater Warenproduktion stattfindet. |
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+ | Das ist ein Widerspruch, wenn man Marx folgt. Das obige Zitat ist da ganz eindeutig. Aber es ist keineswegs besonders oder einzigartig. Wichtig ist, dass Marx in jeder Phase seiner Entwicklung – und also auch, als er das „Kapital“ schrieb – davon überzeugt war, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung auf einem Widerspruch basiert, der schließlich ihren Untergang herbeiführen wird. So schreibt Marx im „Kapital“ über das Verhältnis der kapitalistischen Form der Produktion und der universellen Ausbildung der Arbeiter: „Es unterliegt ebenso wenig einem Zweifel, dass die kapitalistische Form der Produktion und die ihr entsprechenden ökonomischen Arbeiterverhältnisse im diametralsten Widerspruch stehen mit solchen Umwälzungsfermenten und ihrem Ziel, der Aufhebung der alten Teilung der Arbeit. Die Entwicklung der Widersprüche einer geschichtlichen Produktionsform ist jedoch der einzig geschichtliche Weg ihrer Auflösung und Neugestaltung.“ (S. 512) Alles andere muss von Gott kommen. Und dahin verweist Ingo Elbe – aus seiner Sicht mit Recht – diejenigen, die eine Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft erreichen – und infolgedessen auch als möglich denken – wollen. Vom Elbe‘schen „kritischen“ Standpunkt aus ist zu bemerken, dass Marx den Unterschied zwischen „innerer“ und äußerer Historizität nicht beachtet. |
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+ | Die „Arbeiterbewegungsmarxisten“ wollen eine revolutionäre Veränderung des kapitalistischen Systems der Produktion erreichen. Sie stellen ihre theoretischen Anstrengungen aus freien Stücken in den Dienst der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie begreifen die kapitalistische Produktionsweise nicht, obwohl sie vergänglich ist, sondern weil sie vergänglich ist. (Denn nur deswegen können sie in ihrem Denken über die kapitalistische Produktionsweise – wenn auch nur ganz allgemein – hinaus denken und dennoch Materialisten sein, d. h. Menschen, die der Meinung sind, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt und nicht umgekehrt; dass also ihr Denken von ihrem Sein bestimmt wird, und nicht umgekehrt.) Nur deswegen sind sie in der Lage, ihr eigenes Denken zu kritisieren, und also in diesem Sinne kritische Wissenschaft zu treiben. Und schließlich sind sie deswegen in der Lage, nicht nur „innere“ und „äußere“ Historizität zu denken, sondern ihren inneren Zusammenhang, der selbst zur inneren Historizität gehört und also die innere Notwendigkeit des Untergangs der kapitalistischen Produktionsweise – in einem kritischen Sinne rational und wissenschaftlich – zu denken erlaubt. Freilich steht ein solches Denken im Dienste der Befreiung und kann niemandem aufgezwungen werden. Jeder darf an die widerspruchsfreie Reproduktion des Kapitalismus glauben – und das für kritische Wissenschaft halten und sich dabei – darin noch kritischer – auf die „etablierten“ Wissenschaftsstandards berufen. Freilich ist es dann inkonsequent, sich darüber zu wundern, dass die Behauptung, der Kapitalismus lasse sich aufheben, als „Mystizismus“ erscheint. |
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+ | Bevor ich auf diese „kritisch wissenschaftliche“ Weise Frieden mit dem System der kapitalistischen Produktion schließe, bin ich dann doch lieber „Arbeiterbewegungsmarxist“ und lasse mich überdies als „Mystizisten“ entlarven. Ich weiß ja, woher es kommt. Denn für „Arbeiterbewegungsmarxisten“ kommt es nicht primär darauf an, die Welt – inklusive des Marx’schen Werks – anders zu interpretieren, sondern die Welt zu verändern…. Deswegen ist es für „Arbeiterbewegungsmarxisten“ auch politisch nicht unbedingt entscheidend, ob Ingo Elbe Marx richtig versteht oder nicht. Hauptsache man kann politisch etwas mit ihm anfangen. Allerdings setzt das eine – nebensächliche – Erkenntnis voraus: Theoretisch kann man bei der Marxinterpretation mit ihm (noch) wenig anfangen. |
Version vom 27. März 2012, 13:07 Uhr
Ingo Elbe wirft in prodomo die Frage auf: Was kann kritische Gesellschaftstheorie bedeuten? Wie unterscheidet sie sich von affirmativer Theorie? Dies ist seiner Meinung nach die Kernfrage seiner Auseinandersetzung mit einer Reihe von Autoren, denen er „Mystizismus“ vorwirft. Diese Frage begleitet die Entwicklung der marxistischen Vorstellung von Wissenschaft von Anfang an. Und von Anfang an war diese Frage verbunden mit einer Antwort, in der sich Marx dagegen wehrt, in seinem geistigen Horizont auf die kapitalistische Gesellschaft beschränkt zu werden. Die marxsche Wissenschaft war von Anfang an der theoretische Ausdruck einer politischen Praxis, die über die kapitalistische Gesellschaft hinausgehen sollte und wollte. In diesem Sinne sollte die Frage von Anfang an praktisch beantwortet werden, so zum Beispiel in der 2. These und der 11. These zu Feuerbach, aber auch in der Kritik des Gothaer Programms. Immer spricht sich Marx für die Behauptung aus, dass eine Theorie, die nicht affirmativ sein will, mit einer die Gesellschaftsform überwindenden politischen Praxis verbunden ist. Sonst bleibt eine Theorie affirmativ, nämlich die Anerkennung der gegebenen Gesellschaft mit einer anderen Interpretation.
Marx war – um es anders zu formulieren – der Auffassung, dass das Kriterium der Wahrheit die Praxis ist. Der kritische oder affirmative Charakter einer Theorie zeigt sich daher in der Praxis, mit der sie verbunden ist und die sie zu begründen versucht. Eine bloß theoretische Antwort auf die oben genannte Kernfrage – eine Antwort, die die praktisch politische Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht impliziert oder nicht wenigstens im weitesten Sinne darauf Bezug nimmt, ist – so könnte ein marxistisch „arbeiterbewegungssozialistisches“ Vorurteil lauten – eben deswegen nicht eine kritische, sondern eine affirmative wissenschaftliche Theorie. Trifft dieses Vorurteil auch auf Ingo Elbes Darlegungen zu? Das gilt es zu prüfen. Dafür bieten sich zwei Fragen an:
1. Wie begründet Ingo Elbe die Rationalität seiner Überlegungen? 2. Wie bestimmt Ingo Elbe den Gegenstand der politischen Ökonomie?
Die Antwort auf diese beiden Fragen sollten uns zeigen, ob Ingo Elbe in der Tat den Anspruch festzuhalten in der Lage ist, eine „kritische Wissenschaftstheorie“ zu verfolgen, oder ob er – durch die logischen Schwierigkeiten, in die er gerät – in die Fänge einer traditionellen Theorie zurückfällt.
Inhaltsverzeichnis
I. Die theoretische Form der Rationalität bei Elbe
Um die Frage nach der Bedeutung kritischer Gesellschaftstheorie zu beantworten, geht Ingo Elbe zunächst ganz andere Wege. Er fragt sich, welche „Wissenschaftsstandards“ Marx beibehält und welche er verabschiedet. Eine Kritik der anzuwendenden Wissenschaftsstandards wäre also angezeigt, um die oben genannte Kernfrage zu beantworten. Seine eigenen Rationalitätskriterien will Ingo Elbe – wie er findet, aus nachvollziehbaren Gründen – „hier“ nicht begründen. leisten. Er schreibt: „Die Frage einer ‚Begründung’ des Rationalitätsstandards, von dem ich ausgehe, kann hier nicht Thema sein.“ (S, 12) Man mag diese Gründe nachvollziehen. Und doch wirft gerade dieser Satz das Problem auf, dem Ingo Elbe konsequent aus dem Weg gehen will, nämlich das Problem der Begründbarkeit von Rationalitätsstandards. Wollte man die Rationalitätskriterien begründen, so würde man sie in ihrer eigenen Begründung voraussetzen. Denn mit einer Begründung ist doch wohl eine rationale Begründung gemeint. Es hilft nichts, über Theologen zu schimpfen oder einen Mystizismus zu verunglimpfen: Das Problem bleibt. Das weiß auch Ingo Elbe und setzt deswegen eine Fußnote dazu. Diese Fußnote dreht die Begründungslast in einer Weise um, die die Frage der kritischen Gesellschaftstheorie unmittelbar berührt. „Es wäre nicht an mir,“ so schreibt Ingo Elbe, „einen wissenschaftlich etablierten Vernunfttypus zu legitimieren. Begründungen darf man von denen erwarten, die diesen (wissenschaftlich etablierten Vernunfttypus, Stephan Siemens) zugunsten eines bisher nicht explizierten verabschieden oder aufheben wollen.“ (S. 16 Fußnote 11) Ingo Elbe beruft sich also auf den „etablierten Vernunfttypus“, um die Rationalitätsstandards seiner kritischen Gesellschaftstheorie zu legitimieren. Von Kritik keine Spur!
Aber nicht nur das! Die Kritiker haben vor dem etablierten Vernunfttypus stramm zu stehen. Denn um ihren bisher nicht explizierten Vernunftbegriff zu begründen, bedarf es einer Begründung, die den Rationalitätsstandards der etablierten Wissenschaft, mithin der affirmativen Wissenschaft genügt. Ingo Elbe dreht also nicht nur „hier“ aus ihm verständlichen Gründen den Spieß um, sondern er möchte aus der Schwäche seiner eigenen Argumentation ein Argument gegen seine Gegner gewinnen. Das entbehrt nicht einer – wenn auch dialektischen – Logik. Elbe trifft auf das Problem der Begründbarkeit der Rationalitätskriterien. Er stellt – instinktiv – fest, dass die Begründbarkeit dieser Rationalitätsstandards diese selbst voraussetzt. Darauf reagiert er so, dass er „hier“ diese Begründung nicht leisten wolle. Aber dann kommt er auf die Idee, dass er dieses Problem gegen seine Gegner richten könnte. Denn wie er selbst seine Rationalitätsstandards nicht begründen kann, so können es seine Gegner auch nicht. Denn dieser Versuch enthält einen Widerspruch in sich. Also fordert er von ihnen die Begründung, die er selbst „hier“ nicht geben will, aus allerdings – wenn auch in ganz anderem Sinne – verständlichen Gründen. Da die Gegner das nicht können, so scheint Elbe ein Argument gegen sie gewonnen zu haben. Ob das so ist, wird sich noch zeigen.
Zunächst misslingt die Argumentation in sich selbst. Die Begründungsbedürftigkeit der Rationalitätskriterien einerseits, und die Unbegründbarkeit dieser Kriterien, ohne sie selbst vorauszusetzen, andererseits sind die zwei Momente des Widerspruchs, in den eine Rationalität gerät, die das Begründungsverhältnis verabsolutiert und dogmatisiert. (Dieses Problem hat Spinoza in seiner Formulierung der „causa sui“, also der Grund seiner selbst, angedeutet, in der die notwendige Bezogenheit eines Grundes auf ein Anderes – im Widerspruch zum Begriff des Grundes – verneint wird und dadurch das Begründungsverhältnis in ein Selbstverhältnis – hier der Substanz oder Gottes – verkehrt wird.) Anders formuliert: Diese Rationalitätsstandards haben das Irrationale an sich, als Rationalitätskriterien begründungsbedürftig und zugleich der Begründung nicht fähig zu sein, wenn ich sie nicht zugleich voraussetze und also als begründete annehme. Man muss also abwarten, bis der Kritiker diesen Rationalitätskriterien widerspricht und andere Positionen vorträgt, um dann für diese Positionen eine Begründung zu verlangen. Bei dieser Begründung gelten selbstverständlich die eigenen Begründungskriterien oder Rationalitätsstandards. So wird die – aus verständlichen Gründen nicht nur „hier“ gegebene – Unbegründbarkeit von Rationalitätskriterien überhaupt zu einem Argument gegen diejenigen, die sich mit diesem Widerspruch auseinandersetzen wollen und darin einen Beitrag zur Kritik jenes Rationalitätsstandards sehen. (Der Vorwurf des „Mystizismus“ lässt sich gegen Spinoza erheben, und überdies mit seiner Bezugnahme auf Gott rechtfertigen. Aber damit gibt man nur zu verstehen, dass man die logischen Probleme nicht kennt, die Spinoza dazu bewogen haben, diese seine Lösung zu erarbeiten. Man muss sie auch nicht kennen. Das ist nicht notwendig – wenn es für eine „kritische“ Gesellschaftstheorie erlaubt ist, sich auf die „etablierten Rationalitätsstandards“ zu stützen. Über diese Standards hinauszugehen zu einer wirklichen Kritik ist eine Sache der Befreiung, zu der niemand gezwungen werden kann.)
Das lässt sich vielleicht daraus auch erfassen, dass Aristoteles bereits bei der Begründung des Satzes vom Widerspruch (um den es sich letztlich bei den Rationalitätsstandards von Ingo Elbe handelt) schon genauso zu Werke gegangen ist. Aristoteles beginnt seine Darstellung der Begründung des Satzes vom Widerspruch, wie es Ingo Elbe tut, allerdings ohne das „hier“. Er schreibt im 4. Buch im 4. Kapitel seiner „Metaphysik“ folgendes: „Nun gibt es aber wie gesagt einige, welche es für möglich erklären, dass dasselbe sei und nicht sei und dass man dies so annehme.“ Man darf sich hier getrost die „Mystiker“ einsetzen, die Ingo Elbe kritisieren will. Aristoteles fährt nach Beispielen für solche Leute fort: „Wir dagegen haben angenommen, es sei unmöglich, dass etwas zugleich sei und nicht sei, und haben hieraus erwiesen, dass dies das sicherste unter allen Prinzipien ist.“ Aristoteles nennt sich hier „wir“ und behauptet den Satz vom Widerspruch. Und nun kommt Aristoteles auf das Problem der Begründbarkeit der „Rationalitätsstandards“ zu sprechen. „Manche verlangen nun aus Mangel an Bildung, man solle auch dies beweisen; denn Mangel an Bildung ist es, wenn man nicht weiß, wofür ein Beweis zu suchen ist und wofür nicht. Denn dass es überhaupt für alles einen Beweis gebe, ist unmöglich, sonst würde ja ein Fortschritt ins Unendliche eintreten und auch so kein Beweis stattfinden.“ Mit anderen Worten: Ein Beweis, eine direkte Begründung für den Satz vom Widerspruch ist unmöglich, nicht nur „hier“, sondern überhaupt.
Nun beginnt Aristoteles mit dem zweiten Manöver. „Wenn aber für manches kein Beweis gesucht werden darf, so möchten sie wohl nicht angeben können, was sie mit mehr Recht für ein solches Prinzip halten wollten.“ Der Satz vom Widerspruch lässt sich nicht begründen. Also könnte auch ein anderes Prinzip mit demselben Recht gelten. Aber so ist es nicht, sagt Aristoteles, und macht damit den Übergang, den Ingo Elbe mit der Fußnote versucht: „Doch ein widerlegender Beweis für die Behauptung lässt sich führen, sobald der dagegen Streitende nur überhaupt redet; wo aber nicht, so wäre es ja lächerlich, gegen den reden zu wollen, der über nichts Rede steht, gerade insofern er nicht Rede steht; denn ein solcher ist ja einer Pflanze gleich.“ Wenn also der Gegner nicht – wie eine Pflanze – verstummt, sondern sich auf eine Diskussion einlässt, dann – so meint Aristoteles – hat er verloren, und Wissenschaft – so könnte er fortfahren – besteht doch wohl darin, Rede zu stehen. Wenn er aber Rede steht, kann Aristoteles die Beweislast umdrehen. Nach einer Bemerkung über direkten und indirekten Beweis gibt Aristoteles dafür die Gebrauchsanweisung, die Elbe –wohl ohne es zu wissen – verfolgt hat. „Der Ausgangspunkt bei allen derartigen Diskussionen ist nicht, dass man vom Gegner verlangt, er solle erklären, dass etwas sei oder nicht sei (denn dies würde man schon für eine Annahme des zu Beweisenden ansehen), sondern dass er im Reden etwas bezeichne für sich wie für einen anderen; denn das ist ja notwendig, sofern er überhaupt etwas reden will. Wo nicht, so hätte ja ein solcher gar keine Rede, weder zu sich selbst, noch zu einem anderen. Gibt jemand einmal dies zu, so lässt sich ihm auch die Wahrheit des Axioms (also des Satzes vom Widerspruch, Stephan Siemens) erweisen; denn es ist dann schon etwas fest bestimmt. Die Grundlage zum Beweise aber gibt nicht das zu Beweisende, sondern der, welcher Rede steht; denn er steht Rede, ob er doch gleich die Rede aufhebt.“ Eventuell ein Kommentator ergänzt mit Recht: „Und ferner hat der, der dies zugab, zugleich zugegeben, dass etwas wahr sei ohne Beweis, so dass sich also nicht alles zugleich so oder auch nicht so verhalten würde.“
Mit anderen Worten: Die Umkehr der Beweislast ist der Beweis durch Widerlegung, und einen anderen gibt es nicht. Indem man den anderen dazu zwingt, seine Position darzulegen, wie Ingo Elbe das in der Fußnote tun will, begibt man sich in die bessere Ausgangslage zwischen zwei einander entgegen gesetzten, aber gleichermaßen unbegründbaren Positionen. So gesehen hätte Ingo Elbe alles richtig gemacht. Aber das ist ihm leider nicht gelungen. Denn er hat das Verfahren des Aristoteles an einer entscheidenden Stelle modifiziert, indem er ein „hier“ eingeführt hat. Ingo Elbe sagt nämlich, dass er seine Rationalitätskriterien „hier“ nicht darlegen und begründen könne. Das impliziert: Anderswo ist das – in welcher Form auch immer – geschehen, wer auch immer das gemacht haben könnte. Hier reicht es darauf hinzuweisen, dass ein Versuch, in diesem Sinne widerspruchsfrei zu denken, bisher nicht gelungen ist. Diesem Mangel wird in der formalen Logik immer wieder mit Verbotsschildern abgeholfen. Ein ganz berühmtes Verbotsschild ist etwa das Verbot, die Totalität zu denken, dessen Gebotsschild der Verweis auf den „universe of discourse“ oder die Grundmenge ist. Aber woher beziehen diese Verbote ihre Kraft, wenn doch von einem „freien Denken“ ausgegangen werden soll? Sie beziehen ihre Kraft aus derselben Quelle, aus der Ingo Elbe seine angebliche Begründung der „Rationalitätsstandards“ gewinnt, nämlich aus der Etabliertheit des „etablierten Vernunfttypus“, dem man nur mit den Gründen widersprechen darf, die ihm selbst entsprechen, weil – ja weil er der „etablierte Vernunfttypus“ ist, weil er die herrschende Vernunft ist. Das ist – der Form nach – affirmative Wissenschaft, da hilft alles Schimpfen über angebliche Mystiker nichts. Es hat daher etwas Erheiterndes, wenn Ingo Elbe den Marxistinnen und Marxisten die wissenschaftlichen Grundlagen empfiehlt, die ihr eigenes Scheitern immer wieder einräumen müssen, obwohl die „Mystizisten“ doch ein Resultat dieses Scheiterns sein wollen (oder – wie im Falle Spinozas – sind). Der Form nach ist die von Ingo Elbe vorgetragene Rationalität alles andere als kritisch; sie ist in der Art affirmativ, dass sie zugleich die affirmative, die etablierte Vernunft zum Schiedsrichter zwischen ihr selbst und jeder möglichen Kritik an ihr erhebt. Elbe verlässt sich auf die Form der herrschenden Wissenschaft, weil – es sich um die Form der herrschenden Wissenschaft handelt.
II. Der kritische Charakter der Kritik der politischen Ökonomie
Durch die Form der Wissenschaftlichkeit kann also das Kritische einer Gesellschaftstheorie bei Ingo Elbe nicht begründet sein. Insofern scheint sich der erste Teil des Vorurteils des „Arbeiterbewegungssozialisten“ zu bestätigen. Aber es mag sein, dass sich aus dem Verständnis des Gegenstandes dieser Wissenschaft das Kritikpotential einer kritischen Gesellschaftstheorie ergibt. Die Wissenschaft, um die es sich handelt, ist die Kritik der politischen Ökonomie. Dankenswerter Weise wird dieser Gegenstand von Elbe näher charakterisiert. „Gegenstand dialektischer Darstellung in der Kritik der politischen Ökonomie ist die Struktur eines gesellschaftlichen Ganzen“, so schreibt Ingo Elbe S. 12, „sowie dessen strukturbedingte Entwicklungstendenzen, seine innere Historizität.“
Lesende mögen dem folgen, wundern sich aber über das „innere“. Wieso „innere Historizität“? Offenbar soll die innere Historizität dasselbe sein wie die strukturbedingten Entwicklungstendenzen. So beruhigen sich die Lesenden zunächst, weil sie sich einen ersten Eindruck verschafft haben, was Ingo Elbe meinen könnte. Sie schleppen aber Überlegungen im Unbewussten mit sich, die auf die Möglichkeit einer „äußeren Historizität“ hinweisen und bleiben unterirdisch mit der Frage beschäftigt, worin denn wohl eine äußere Historizität bestehen könnte. Dies Beunruhigung wird aber von Ingo Elbe gleich im nächsten Satz – je nachdem entweder vergrößert oder behoben. Denn der nächste Satz zeigt, dass hier unter Entwicklung etwas ganz anderes zu verstehen ist, als man sich zunächst vorstellen wollte. Elbe schreibt: „’Entwicklung’ (die Anführung soll zeigen, dass es sich um eine metatheoretische Erörterung handelt, Stephan Siemens) ‚Entwicklung’ der Formen des gesellschaftlichen Reichtums und Zwangs bezeichnet nicht die Rekonstruktion ihrer geschichtlichen Entstehung, sondern die Erklärung einer Struktur gleichzeitig existierender und sich wechselseitig (voraus)setzender Formen.“ Diese Entwicklung ist also nicht eine Entwicklung in der Zeit, sondern eine gedankliche Entwicklung. Eine „äußere Historizität“ würde sich in der Geschichte abspielen. Eine „innere Historizität“ spielt sich dagegen nur in der Darstellung der Theorie ab. Sie dient der Erklärung einer Struktur. Die Lesenden wissen nun, was äußere und innere Historizität bedeutet. Zu ihrer Verwunderung aber müssen sie feststellen, dass zum Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie nur die „innere Historizität“ gehören soll, nicht aber die äußere.
Das ist auch Elbe irgendwie unangenehm. Deswegen führt er ein rein rhetorisches „primär“ ein, das die Lesenden beschwichtigen soll, die eventuell auch an eine „äußere Historizität“ der kapitalistischen Gesellschaft glauben wollen. „Dialektische Darstellung ist primär“, so schreibt Ingo Elbe, „die begriffliche Reproduktion eines unter bestimmten, nicht vom System selbst gesetzten, Bedingungen produzierten und sich stets reproduzierenden Gegenstands (hervorgehoben von Stephan Siemens), der ‚an sich’ real existiert, aber ’für uns’, als begriffener Gegenstand, noch entfaltet werden muss.“ Im weiteren Artikel erweist sich das „primär“ als eine Floskel. Denn von einer anderen als der „inneren Historizität“ ist nicht mehr die Rede. Es ist – nach diesem Gedankengang – nicht primär so, wie Ingo Elbe den Lesenden glauben machen will, sondern es ist so, wenn man Ingo Elbe folgt. Denn er stellt das kapitalistische System als ein System dar, das sich stets reproduziert – und Punkt. Mit einer äußeren Historizität hat die innere nur insofern zu tun, als die innere der äußeren widerspricht. Das kapitalistische System mag seiner äußeren Historizität nach vergänglich sein; seiner inneren Historizität nach reproduziert es sich stets und ins Unendliche; es ist unvergänglich. Es bleibt. Aus dem kapitalistischen System heraus lassen sich keine Entwicklungstendenzen feststellen oder auch nur denken, die zur Überwindung des Systems der kapitalistischen Reproduktion führen müssten oder auch nur könnten. Wenn es also solche gibt, dann müssen das äußere „Bedingungen“ sein. Es müsste so etwas wie Gott sein, der von außen in die Geschichte eingreift.
So mutet es nicht überraschend an, dass Elbe Theologen und Mystiker am Werk sieht, wenn die Überwindung des kapitalistischen Systems überhaupt gedacht werden soll. Dass diese Überwindung aus inneren Bedingungen heraus gedacht werden soll, kann für Elbe keine wissenschaftliche Behauptung sein. Denn die Überwindung des kapitalistischen Systems findet nach dieser Konzeption der Kritik der politischen Ökonomie schlicht nicht statt. Im Gegenteil: Das System reproduziert sich stets. Der Gegenstand der politischen Ökonomie wird durch die – angebliche – Kritik der politischen Ökonomie nicht kritisiert, sondern – im Gegenteil – als ein sich selbst stets reproduzierender und sich also stets selbst affirmierender Gegenstand – wenn auch dialektisch im Sinne der Entwicklung des Denkens in der Theorie – dargestellt. Nicht Kritik, sondern Affirmation der kapitalistischen Gesellschaft ist der uns von Elbe präsentierte Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie. Dieser Gegenstand weist nicht über sich hinaus, er ist insoweit nicht vergänglich. Im Gegenteil: Er ist stets sich reproduzierend, er ist der inneren Vergänglichkeit entnommen. Die Dialektik beschränkt sich auf die Darstellung eines an sich undialektischen Gegenstandes: Von kritischer Gesellschaftstheorie nicht die mindeste Spur.
Ist kritische Gesellschaftstheorie möglich?
Ich will nicht bestreiten, dass Ingo Elbe „kritische Gesellschaftstheorie“ betreiben will. Aber wie er diese Theorie zu „etablieren“ versucht, das wirft ihn zurück auf eine affirmative Theorieform verbunden mit einem sich selbst affirmierenden Gegenstand „kapitalistische Gesellschaft“, der sich stets reproduziert und sich dadurch zum für sich selbst ewigen Gegenstand mausert. Eine Überwindung des Kapitalismus durch bloß irdische Kräfte wird für Ingo Elbe buchstäblich undenkbar. Das Fatale dieser Form, den Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie aufzufassen, ist die darin enthaltene Entgegensetzung von Begreifbarkeit und Vergänglichkeit, lässt man – wie ich das im weiteren tue – ein himmlisches Eingreifen außer Acht. Entweder – so stellt sich nach Ingo Elbe die Sache dar – die kapitalistische Gesellschaft ist begreifbar, dann kann sie nicht widersprüchlich sein. Oder die kapitalistische Gesellschaft ist widersprüchlich, dann kann sie nicht begriffen werden. (Die Unterscheidung zwischen logischem und dialektischem Widerspruch ist hier nur ein Wort, denn die von Ingo Elbe anerkannten „dialektischen Widersprüche“ verdanken sich nur den Problemen der Darstellung wissenschaftlicher Theorien. Mit der dargestellten Sache haben sie nichts zu tun.) Das Fazit dieser Entgegensetzung: Wenn man das kapitalistische System praktisch politisch zu überwinden versucht, dann wird es eben dadurch unbegreiflich. Der Marxist muss sich entscheiden, ob er das kapitalistische System begreifen oder ob er es politisch überwinden will, wobei sich Ingo Elbe für das Begreifen entschieden zu haben scheint.
Andere Theoretiker, die „selbstverständlich“ unter etablierten Wissenschaftsstandards nicht in Betracht kommen, sehen umgekehrt in der Überwindbarkeit des kapitalistischen Systems der Produktion den Schlüssel zu seiner historisch beschränkten Berechtigung und also auch bedingten Begreiflichkeit. Sie sagen also: Weil das kapitalistische System überwindlich ist, deswegen ist es – wenn auch bedingt, nicht absolut – begreiflich. Die Menschen, so sagen sie weiter, die im kapitalistischen System produzieren, reproduzieren zwar den Kapitalismus, aber sie verändern dabei auch die Art und den Inhalt der Produktion. Die kapitalistische Gesellschaft wird von diesen Individuen zwar reproduziert, aber zugleich auch modifiziert und verändert. In dem „Re-“ der Reproduktion steckt eine Verneinung, wenn sie auch auf den ersten Blick minimal zu sein scheint, zu verschwinden scheint. Aber durch die in der Reproduktion gedachte Wiederholung wird die Modifikation des Reproduzierten immer wieder wiederholt, stabilisiert und vergrößert sich, und wird mehr und mehr in Erscheinung treten, so sagt der „Arbeiterbewegungssozialist“. Die kapitalistische Gesellschaft ist daher nicht nur eine Gesellschaftsform, die stets reproduziert wird, sondern eine Gesellschaftsform, die eben auf diese Weise stetig verändert wird. Sie wird von den Individuen, die arbeiten, erhalten oder reproduziert, indem sie verändert wird. (Dass es die Individuen sind, die die kapitalistische Gesellschaft reproduzieren, versteht sich von selbst. Da sie das aber weder bewusst noch aus freien Stücken tun, ist die an sich fetischisierende Rede von der „sich reproduzierenden Gesellschaft“ beschränkt berechtigt.)
Nun kann ein Theoretiker an dieser einheitlichen Bewegung Hinsichten unterscheiden: er kann die Hinsicht, nach der sich die kapitalistische Gesellschaft reproduziert, von der Hinsicht unterscheiden, nach der sich dieselbe Gesellschaft verändert. Ein solcher Theoretiker hat dann die einheitliche Bewegung in zwei Aspekte zerteilt. Der Widerspruch zwischen der Identität der sich selbst verändernden Gesellschaft und Veränderung der sich selbst verändernden Gesellschaft ist dann nicht mehr ein Widerspruch im Gegenstand, der eine gegenständliche Auflösung fordert, sondern ein Widerspruch im „ erkennenden Subjekt“, wenn es sich um Hinsichten handelt, oder der wissenschaftlichen Darstellung, wenn es sich um das Verhältnis der Struktur zu ihrer gedanklichen Darstellung handelt. Das Objekt selbst wird – durch eine theoretische Aktion – in den Gedanken zu einem widerspruchsfrei gedachten und stets sich reproduzierenden Objekt, eben der sich verewigenden kapitalistischen Gesellschaft.
Dass aber ein Ansatz, der sich auf die Elbeschen Wissenschaftsstandards stützt, in Widersprüche gerät, ist ebenso verständlich wie die Wissenschaftsstandards selbst. Es handelt sich dabei um denselben Sachverhalt, wenn auch einmal vom Anfang der Bewegung her betrachtet, das andere Mal vom Ende der Überlegung her aufgezäumt. In diesem Falle steht die Rationalität und Begreifbarkeit der Position Elbes nicht im Widerspruch zur Widersprüchlichkeit der Position, die er begründen will. Die Rationalität macht im Gegenteil den (kritisch) Lesenden die Widersprüchlichkeit verständlich: Denn die Rationalität ist ein einseitiger Ausdruck der Widersprüchlichkeit dieser Position selbst. Wie das formal logische Denken notwendig aus sich selbst heraus zu Widersprüchen führt (die durch bestimmte Denkverbote verhindert werden sollen, die aber das Problem nur verschieben), so führt das Durchdenken der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft zu Widersprüchen, wenn nicht sachfremde Erwägungen verhindern, dass diese Widersprüche durchdacht werden.
Der Widerspruch zwischen der Reproduktion des kapitalistischen Systems und der Veränderung ebendieses Systems führt – nach der Überzeugung des „Arbeiterbewegungsmarxisten“ – notwendig zum Untergang dieses sich stetig modifiziert reproduzierenden Systems, also zur Überwindung des Kapitalismus. Für eine kritische Wissenschaft ist der Kapitalismus begreiflich; aber noch begreiflicher ist sein Untergang. Für eine affirmative Gesellschaftstheorie ist dafür eine Berufung auf Gott, ein Mystizismus oder dergleichen notwendig. Wirklicher Mystizismus ist jedoch die – Ingo Elbes Vorstellungen ungewollt inhärierende – Behauptung, dass das kapitalistische Gesellschaftssystem als einziges in der bisherigen Geschichte nicht aus seinen inneren Bedingungen untergeht. Zu seinem Untergang bedürften wir in der Tat eines erlösenden Heilshandelns Gottes.
IV. Der Widerspruch im Begriff des Wertes
Die kapitalistische Gesellschaft soll also in sich widersprüchlich sein, behaupten die traditionalistischen „Arbeiterbewegungsmarxisten“. Dann müsste dieser Widerspruch auch in den Kategorien sichtbar werden, in denen die kapitalistische Gesellschaft gedacht wird, zum Beispiel in der Kategorie des Werts. Gerade dies bestreitet Ingo Elbe. Er sagt nämlich: „Die Einheitsdimension von Gebrauchswert und Wert ist ohne jeden logischen Widerspruch denkbar.“ Um das zu prüfen, ist es erforderlich, dem Gang der Argumentation zu folgen. Überraschender Weise beginnt Ingo Elbe nicht – wie Marx – mit der Ware. Er geht sofort auf den Kern der Sache ein, auf den Wert: „Zunächst gilt der Wert selbst als gesellschaftliche Einheitsdimension von Privatprodukten: Die isoliert voneinander produzierten Güter werden als Waren, durch das Absehen von ihren Gebrauchswerten und das Reduzieren auf Produkte abstrakter Arbeit, in ihrer Wertdimension aufeinander bezogen und so vergesellschaftet.“ (S. 13) Ingo Elbe geht also bei der Erklärung der Widerspruchsfreiheit von der Privatproduktion aus. In der Privatproduktion stellt sich das Produkt als Ware dar. Wieso das so ist, das erfahren wir von Ingo Elbe nicht. Tatsache ist: es ist so und das funktioniert. Denn so fährt Ingo Elbe fort: „Abstrakte Arbeit als Nominalabstraktion ist eine Eigenschaft, die jeder Ware als Produkt menschlicher Arbeit zukommt.“ Die Eigenschaft der Ware ist die, Produkt abstrakt allgemeiner Arbeit zu sein. Abstrakte Arbeit ist nicht eine Eigenschaft der Ware, sondern eine Form, unter der sich die menschliche Arbeitstätigkeit unter Bedingungen privater Produktion in ihrem Produkt unter einem Aspekt darstellt.
Zur Wertsubstanz reicht das nach Ingo Elbe jedoch nicht. „Das konstituiert sie allerdings noch nicht zur Wertsubstanz. Diese ist nur gegeben, wenn Arbeitsprodukte in ihrer Eigenschaft als bloße Produkte menschlicher Arbeit im Tausch auf einander bezogen werden. Damit ist die Wertsubstanz eine rein relationale Eigenschaft, die eine nicht relationale Eigenschaft als Träger besitzt.“ Wertsubstanz entsteht nur beim Tauschen. Also – so schließt Elbe – ist die Wertsubstanz eine rein „relationale Eigenschaft“. Eine einzige Ware als solche kann keine Wertsubstanz haben, weil sie dazu in einer Relation zu einer anderen Ware stehen muss. Das aber tut sie im Tausch.
Gehen wir davon aus, dass es so ist. Der Wert ist dann die „Dimension“ der Einheit der Waren. Von ihm ist die Ware als solche zu unterscheiden. „Vom Wert als Einheitsdimension zu unterscheiden ist die Ware als Einheit von Gebrauchswert und Wert, die zunächst nur das Nebeneinanderbestehen zweier verschiedener Bestimmungen – stofflicher und gesellschaftlicher – desselben Gegenstandes meint.“ Ein Gegenstand hat zwei Bestimmungen, eine stoffliche und eine gesellschaftliche. Beide bestehen nebeneinander. Wo soll da ein Widerspruch herkommen? „Eine Ware ist ein ‚in einer gesellschaftlich-unspezifischen Hinsicht Gebrauchswert, d. h. ein Stück bearbeiteter Natur [...] und in einer gesellschaftlich spezifischen Hinsicht Wert.’“
Überzeugt Ingo Elbes Ableitung einer relationalen und einer nichtrelationalen Eigenschaft von Waren, die nicht zueinander in Widerspruch steht?
Eine Ware hat einen Gebrauchswert und einen Wert. Insofern kann man sie als Einheit von Gebrauchswert und Wert bestimmen. Der Wert dieser Ware erscheint im Tausch als der Tauschwert dieser Ware in anderen Waren. Der Wert der Ware ist jedoch von diesem Tauschwert unterschieden. Daraus schließt nun Elbe, dass Gebrauchswert und Wert nichts miteinander zu haben, dass sie zwei einander gleichgültige Bestimmungen eines Dinges sind, wie etwa Lage und Farbe, nur dass die eine Eigenschaft, im Vergleich die Lage, „relational“ sei, die andere aber nicht. Elbe betrachtet nicht die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die dazu führen, dass es zur Warenproduktion kommt. Er geht nicht zur Darstellung des Doppelcharakters der in Waren dargestellten Arbeit über, wie Marx das im „Kapital“ tut
Denn Gebrauchswert und Wert kommen der Ware nur insofern zu, als sie Resultat privatbetriebener, arbeitsteiliger, und also marktvermittelter menschlicher Arbeitstätigkeit ist. Die Arbeit, die sich in den Waren darstellt, hat einen Doppelcharakter, und dieser Doppelcharakter ist der Springpunkt aller Kategorien der politischen Ökonomie, wie Marx im „Kapital“ (MEW23, S. 56) behauptet. Dieser Doppelcharakter der in der Ware dargestellten Arbeit resultiert daraus, dass sich ein und dieselbe Arbeitstätigkeit unter der Bedingung gesellschaftlicher Arbeitsteilung privater Produzenten am Produkt unter zwei Gesichtspunkten darstellen muss, nämlich einerseits insofern sie ein bestimmtes gesellschaftliches Bedürfnis befriedigt, mithin einen Gebrauchsgegenstand im weitesten Sinne hervorbringt, andererseits aber insofern diese Tätigkeit als Verausgabung gesellschaftlich notwendiger menschlicher Arbeit überhaupt angesehen wird. Wenn man so will, kann man das als die Hinsichten Elbes betrachten. Der Ausdruck Wertsubstanz bezeichnet bei Marx dies, dass die Waren Resultate menschlicher Arbeit überhaupt sind, dass sich also in ihnen „verausgabte menschliche Arbeitstätigkeit“ darstellt.
Dass sie als solche auf Tausch hin produzierte Waren sind, ist zweifellos richtig, macht aber nicht den Unterschied zwischen dem Wert als solchen und der Wertsubstanz aus. Denn insofern Waren als solche produziert werden, haben sie Anteil an der Wertsubstanz: „Die Arbeit jedoch, welche die Substanz der Werte bildet, ist gleiche menschliche Arbeit, Verausgabung derselben menschlichen Arbeitskraft. Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, die sich in den Werten der Warenwelt darstellt, gilt hier als ein und dieselbe menschliche Arbeitskraft, obgleich sie in zahllosen individuellen Arbeitskräften besteht.“ Die gesamte gesellschaftliche Arbeitskraft verteilt sich von selbst auf verschiedene Arbeitstätigkeiten. Ein und dieselbe Arbeitstätigkeit der Menschen wird daher in der Arbeitswertlehre auf eine gedoppelte Weise betrachtet, einmal als konkret-nützliche, Gebrauchswert produzierende Tätigkeit, und das andere Mal als Wert produzierende Arbeit.
Der Wert entspringt aber nicht der Betrachtung der Arbeit selbst, also aus der sogenannten „lebendigen Arbeit“, sondern der bereits verausgabten Arbeit. Die Einheit, die Gebrauchswert und Wert zugrunde liegt, ist die unmittelbare lebendige Arbeitstätigkeit selbst. Sie muss aber zu einem Ende kommen, in Produkten resultieren, damit Waren entstehen. An den Produkten, insofern sie Waren sind, treten nun die Bestimmungen dieser Arbeit als verschiedene Bestimmungen auf. Dieselbe Arbeit stellt sich unter verschiedenen Aspekten dar, als konkret nützliche Arbeit und als abstrakt allgemeine Arbeit. Diese Aspekte scheinen zunächst einfach verschiedene Betrachtungsweisen eines – unter arbeitsteiligen privaten Bedingungen produzierten – Arbeitsprodukts zu sein. Es lässt sich als nützliches Ding betrachten, dann ist es Gebrauchswert, und es lässt sich als Resultat menschlicher Arbeit überhaupt betrachten, dann ist es ein Wert. Dieser Unterschied mausert sich aber im wirklichen Tausch zu einem „Gegensatz“ und dann auch zu einem „Widerspruch“, zumindest wenn man sich an Marx hält. Denn der schreibt im „Kapital“ (MEW, Bd. 23, S. 128): „Der der Ware immanente Gegensatz von Gebrauchswert und Wert, von Privatarbeit, die sich zugleich als unmittelbar gesellschaftliche Arbeit darstellen muss, von besonderer konkreter Arbeit, die zugleich als abstrakt allgemeine Arbeit gilt, von Personifizierung von Sachen und Versachlichung von Personen – dieser immanente Widerspruch erhält in den Gegensätzen der Warenmetamorphosen seine entwickelte Bewegungsform. Diese Formen schließen daher die Möglichkeit, aber auch nur die Möglichkeit von Krisen ein.“ Marx sagt also: Es gibt einen immanenten Gegensatz der Bestimmungen Gebrauchswert und Wert, der sich zu einem Widerspruch entwickelt. Dieser Widerspruch findet seine ihm eigenen Bewegungsformen in der Warenmetamorphose. Weil sie Bewegungsformen des Widerspruchs der der Ware immanenten Gegensätze sind, ermöglichen sie Krisen. (Deren Möglichkeit ist schwerlich auf Darstellungsbesonderheiten des „Kapital“ von Karl Marx zurückzuführen.) Insofern sie als solche erkannt sind, ermöglichen sie auch die Erkenntnis der Möglichkeit von Krisen, aber eben nur deshalb, weil sie der wirkliche Ermöglichungsgrund für Krisen sind. Marx sieht Gebrauchswert und Tauschwert als widersprechende Moment nicht nur in einer Theorie, sondern auch in dem von der Theorie dargestellten Gegenstand an. Und Marx sagt auch, worin dieser Widerspruch besteht: Die Privatarbeit muss sich unmittelbar als gesellschaftliche Arbeit darstellen (Oder anders formuliert: Nicht gesellschaftliche Arbeit muss sich unmittelbar als gesellschaftliche Arbeit darstellen.) Konkret nützliche Arbeit muss zugleich und unmittelbar als abstrakt allgemeine Arbeit gelten. Und nun kommt der große Augenblick des Ingo Elbe. Er beruft sich nämlich darauf, dass da „gelten“ steht und nicht „sein“. Er macht das in Bezug auf die Wertformanalyse. In der Gleichung „x Ware A = y Ware B wert“ steht der Gebrauchswert der Ware B als Ausdruck für den Wert der Ware A. Die konkret nützliche Arbeit, die in der Produktion der Ware B resultiert, stellt in dieser Gleichung die abstrakt allgemeine Arbeit überhaupt dar, in der die konkret nützliche Arbeit, die zu dem Produkt A führt, ihren Wert ausdrücken kann.
„Die Naturalform von B gilt aber im Rahmen dieses Verhältnisses lediglich als Wertform von A. Es verwandelt sich dabei weder der Wert (von A) in den Gebrauchswert (von B) noch der Gebrauchswert (von B) in den Wert (von A). Die Wertform x Ware A = y Ware B ist ein polarischer Gegensatz. Dessen Pole sind Reflexionsbestimmungen, d. h. Eigenschaften, die ihnen nur innerhalb ihres Verhältnisses aufeinander zukommen. Die irrationale Auffassung, in der Wertform entstehe eine reale Verschmelzung von Gebrauchswert und Wert konkreter und abstrakter Arbeit, Privatarbeit und gesellschaftlicher Arbeit, erliegt gerade dem Warenfetisch, der relationale Eigenschaften als Dingeigenschaften begreift.“
Ein Widerspruch wäre es also, so Elbe, wenn da stünde, es ist, aber da steht nur, es gilt. Und wenn etwas nur gilt, dann ist es nur so innerhalb eines Verhältnisses. Sehr richtig! Aber eben dieses Verhältnis, eben die gesellschaftlichen Verhältnisse, um deren Darstellung als Verhältnisse von Dingen es sich handelt, sollen es dem „Arbeiterbewegungsmarxismus“ gemäß sein, die widersprüchlich sind. Jemand weist auf die Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse hin! Ingo Elbe antwortet ihm: Das ist kein Widerspruch, das ist nur ein Verhältnis. Denn da steht ja „gilt“. Da steht ja nicht „ist“. Also ist es kein Widerspruch. Läge eine „reale Verschmelzung“ von abstrakter und konkret nützlicher Arbeit vor, von Privatarbeit und gesellschaftlicher Arbeit vor, ja dann könnte man von einem Widerspruch sprechen. Aber so...!
Ingo Elbe hat recht. Die Verschmelzung ist nicht da, man müsste genaugenommen sagen, nicht mehr da. Die Verschmelzung ist verschwunden. Aber sie liegt, das hat Ingo Elbe übersehen, der ganzen Sache zugrunde. Die Verschmelzung ist die den Waren vorausgegangene lebendige Arbeit. Die Menschen arbeiten nicht zweimal: einmal abstrakt und einmal konkret nützlich. Die lebendige Arbeit, die sich in den Waren verausgabt darstellt, ist ein und dieselbe Arbeit, sie ist die – von Ingo Elbe brüskiert zurückgewiesene – „Verschmelzung“ von konkret-nützlicher und abstrakt-allgemeiner Arbeit. Es gibt gar keine warenproduzierende Arbeit, für die das nicht gilt. Weil sich aber am Produkt der Arbeit, die sich in Waren darstellt, diese beiden Aspekte nicht getrennt darstellen lassen, deswegen bedarf die Ware A zur Darstellung ihres Wertes einer anderen Ware, die ebenfalls Resultat der „realen Verschmelzung“ von Gebrauchswert und Wert ist, da sie ebenfalls Resultat einer privaten Arbeitstätigkeit ist, die unmittelbar als gesellschaftliche Arbeitstätigkeit gelten soll. So kann und muss die Ware A eine andere Ware, nehmen wir die Ware B, benutzen, um sich ihren Wert in der Ware B zu spiegeln. Dann gilt die Ware B in ihrer konkret nützlichen Gebrauchswertgestalt als reines Wertding, obwohl auch sie Resultat einer Arbeitstätigkeit ist, die eine reale Verschmelzung von Privatarbeit und gesellschaftlicher Arbeit ist. Abstrakte Arbeit ist nicht eine Eigenschaft der Dinge, sondern eine Darstellungsform der Arbeitstätigkeit der Menschen unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse. Das „gilt“ resultiert hier tatsächlich aus einer versuchten unmittelbaren Verschmelzung von konkret nützlicher und abstrakt allgemeiner Arbeit, um die abstrakt allgemeine Arbeit vorstellbar zu machen. Aber der Witz ist: Es handelt sich darum, dass die konkret nützliche Arbeit, die zur Ware A führte, sich als abstrakte Arbeit dadurch darstellt, dass sie eine andere konkret nützliche Arbeit für die abstrakt allgemeine Arbeit überhaupt nimmt. Sie veräußert also ein Moment der Arbeit, das sie in sich birgt, in der Darstellung so, dass sie ihren Anteil an der abstrakt allgemeinen Arbeit ausgedrückt in der konkret nützlichen Arbeit einer anderen Ware findet. Deswegen „gilt“ die andere Ware als Darstellung des Werts überhaupt. Sie ist es nicht. Aber beide Waren sind gleichermaßen Resultate von „realen Verschmelzungen“ von abstrakt allgemeiner und konkret nützlicher Arbeit, d.h. von der lebendigen Arbeitstätigkeit selbst, die allerdings unter Bedingungen privater Warenproduktion stattfindet.
Das ist ein Widerspruch, wenn man Marx folgt. Das obige Zitat ist da ganz eindeutig. Aber es ist keineswegs besonders oder einzigartig. Wichtig ist, dass Marx in jeder Phase seiner Entwicklung – und also auch, als er das „Kapital“ schrieb – davon überzeugt war, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung auf einem Widerspruch basiert, der schließlich ihren Untergang herbeiführen wird. So schreibt Marx im „Kapital“ über das Verhältnis der kapitalistischen Form der Produktion und der universellen Ausbildung der Arbeiter: „Es unterliegt ebenso wenig einem Zweifel, dass die kapitalistische Form der Produktion und die ihr entsprechenden ökonomischen Arbeiterverhältnisse im diametralsten Widerspruch stehen mit solchen Umwälzungsfermenten und ihrem Ziel, der Aufhebung der alten Teilung der Arbeit. Die Entwicklung der Widersprüche einer geschichtlichen Produktionsform ist jedoch der einzig geschichtliche Weg ihrer Auflösung und Neugestaltung.“ (S. 512) Alles andere muss von Gott kommen. Und dahin verweist Ingo Elbe – aus seiner Sicht mit Recht – diejenigen, die eine Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft erreichen – und infolgedessen auch als möglich denken – wollen. Vom Elbe‘schen „kritischen“ Standpunkt aus ist zu bemerken, dass Marx den Unterschied zwischen „innerer“ und äußerer Historizität nicht beachtet.
Die „Arbeiterbewegungsmarxisten“ wollen eine revolutionäre Veränderung des kapitalistischen Systems der Produktion erreichen. Sie stellen ihre theoretischen Anstrengungen aus freien Stücken in den Dienst der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie begreifen die kapitalistische Produktionsweise nicht, obwohl sie vergänglich ist, sondern weil sie vergänglich ist. (Denn nur deswegen können sie in ihrem Denken über die kapitalistische Produktionsweise – wenn auch nur ganz allgemein – hinaus denken und dennoch Materialisten sein, d. h. Menschen, die der Meinung sind, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt und nicht umgekehrt; dass also ihr Denken von ihrem Sein bestimmt wird, und nicht umgekehrt.) Nur deswegen sind sie in der Lage, ihr eigenes Denken zu kritisieren, und also in diesem Sinne kritische Wissenschaft zu treiben. Und schließlich sind sie deswegen in der Lage, nicht nur „innere“ und „äußere“ Historizität zu denken, sondern ihren inneren Zusammenhang, der selbst zur inneren Historizität gehört und also die innere Notwendigkeit des Untergangs der kapitalistischen Produktionsweise – in einem kritischen Sinne rational und wissenschaftlich – zu denken erlaubt. Freilich steht ein solches Denken im Dienste der Befreiung und kann niemandem aufgezwungen werden. Jeder darf an die widerspruchsfreie Reproduktion des Kapitalismus glauben – und das für kritische Wissenschaft halten und sich dabei – darin noch kritischer – auf die „etablierten“ Wissenschaftsstandards berufen. Freilich ist es dann inkonsequent, sich darüber zu wundern, dass die Behauptung, der Kapitalismus lasse sich aufheben, als „Mystizismus“ erscheint.
Bevor ich auf diese „kritisch wissenschaftliche“ Weise Frieden mit dem System der kapitalistischen Produktion schließe, bin ich dann doch lieber „Arbeiterbewegungsmarxist“ und lasse mich überdies als „Mystizisten“ entlarven. Ich weiß ja, woher es kommt. Denn für „Arbeiterbewegungsmarxisten“ kommt es nicht primär darauf an, die Welt – inklusive des Marx’schen Werks – anders zu interpretieren, sondern die Welt zu verändern…. Deswegen ist es für „Arbeiterbewegungsmarxisten“ auch politisch nicht unbedingt entscheidend, ob Ingo Elbe Marx richtig versteht oder nicht. Hauptsache man kann politisch etwas mit ihm anfangen. Allerdings setzt das eine – nebensächliche – Erkenntnis voraus: Theoretisch kann man bei der Marxinterpretation mit ihm (noch) wenig anfangen.